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Enthält das frühe Mittelalter erfundene Zeit?
Heribert Illig
Diese Fragen/Thesen, Antworten einer Reihe von Mittelalter-Fachleuten
und die Replik Dr. Heribert Illigs sind in einem Sonderdruck
(40 Seiten) leider nicht mehr erhältlich!
Die These, um die es hier geht, läßt sich in knappen Worten so
darstellen: Rund drei Jahrhunderte (vorschlagsweise zwischen 614
und 911) stehen in den Geschichtsbüchern, ohne daß ihnen je reale
Zeit entsprochen hat. Diese Pseudo-Zeit findet sich in all jenen
Ländern zwischen Island und Iran, deren Geschichte miteinander
synchronisiert worden ist. (Indien und China zählen aller Wahrscheinlichkeit
nach nicht zu diesem Kreis). Personen und Kunstgegenstände, Bauwerke
und archäologische Überreste, die dieser Phantomzeit zugeordnet
werden, stammen aus anderer Zeit oder sind fiktiv [1]
Allen sich daran anschließenden Problemkreisen - etwa: wie kamen
die Jahrhunderte in die Geschichtsbücher, wer war Urheber, wer
waren die Ausführenden, was waren die Motive? - wird andernorts
nachgegangen. Hier gebt es ausschließlich um das Fundament dieser
These.
Die Beweisführung dafür folgte dem Grundsatz, Quellen und Artefakte
möglichst präzis mit anderen Quellen und Artefakten zu kontrollieren.
Aus dieser Beweisführung werden den einschlägigen Wissenschaftlern
sechs Fragen vorgelegt, auf die es bislang - seit Januar 1996
diskutieren Mediävisten mein Thesengebäude öffentlich - keine
zureichenden Antworten gab. Es geht bei dieser Auswahl um die
Einordnung eines Kirchenbaus (Aachens Pfalzkapelle) in die Kunstgeschichte,
um die unüberwindbaren Diskrepanzen zwischen Architektur und Schriftquellen
(St-Denis). um das heikle Problem der gregorianischen Kalenderreform,
die überwaltigende Fülle mittelalterlicher Fälschungen und die
polare Deutbarkeit von Quellenmaterial (Wirtschaft).
1) Das Gewölbe der Aachener Pfalzkapelle
Im Zentrum meiner Argumentation steht 'das Herz' des Frankenreichs,
die Aachener Pfalzkapelle. Bislang wurde weder ihre Datierung
("um 800") noch eine karolingerzeitliche Kernsubstanz angezweifelt.
Aus den von mir aufgedeckten 24 Anachronismen dieses Bauwerks
[1:222-305] wird nur einer vorgestellt: die Kuppel und ihre Konstruktion,
Das Oktogon von Aachen wird von einem sogen. Klostergewölbe von
ca. 15 m Durchmesser überspannt, das ca. 30,50 m Höhe erreicht.
Diese Kuppel ist aus Hausteinen gearbeitet und mißt an ihrer schwächsten
Stelle 0,86 m. Damit steht Aachen als Bau ohne Vorläufer, ohne
Nachfolger außerhalb der Architekturgeschichte. Denn die Römer
haben große Kuppeln in Beton gegossen (z.B. Pantheon), die Rhomäer
mit leichten Tonhohlkörpern gemauert (z.B. San Vitale, Ravenna).
Beide Techniken können zur Schubableitung des viel schwereren
Steingewölbes wenig beitragen, beide Techniken waren obendrein
seit 230 respektive ca. 400 Jahren (Justinians Tod 565, sog. Tempel
der Minerva Medica viell. 400) nicht mehr im Einsatz.
Die Franken selbst waren Holzbauer ohne Steintradition. Nachdem
gleichwohl Aachen gegen 800 gewölbt worden sein soll, wurde die
Technik des Kuppelbaus, ja der Wölbung nicht nur bis 970 kaum
mehr ausgeübt, sondern so vollständig vergessen, daß es ab ca.
970 nicht mehr als 130 Jahre brauchte, um die Spanweiten von 3,50
m wieder auf Aachens 15 m zu bringen. (realisiert in Speyers Domvierung
erst nach 1100). Die wenigen anderen der ‘Karolinger-Zeit’ zugewiesenen
Bauten können Aachen weder vorbereiten noch fortsetzen.
Frage: Gibt es eine hinreichende Erklärung für diese Singularität
innerhalb der bisherigen Architekturgeschichte?
2) Das Fehlen der Aachener Kulte
Die frappanten Widersprüche in der Figur Karls des Großen können
nur die Aufblähung , aber nicht die Fiktionalität dieser Figur
beweisen. Immerhin sind mindestens drei Mängel zu beklagen, die
die Berichte über ihn, wenn nicht sein Dasein selbst in Frage
stellen.
Das vergeblich in der Aachener Pfalzkapelle gesuchte Karlsgrab
diskreditiert zunächst das Zeugnis von Einhard, dann auch die
beiden angeblichen Gruftöffner Otto III. und Friedrich I. Barbarossa
[1; 44ff]. Zum zweiten beschämt es die Nachwelt, denn ein Herrscher
mit dem Nachruhm Karls, bestattet in einer außergewöhnlichen Kirche,
müßte jahrhundertelange Grabesverehrung genießen. Doch gab es
jahrhundertelang keinen Karlskult in Aachen (zumindes bis Otto
III. anno 1000, im Grunde bis Barbarossa,1165).
Genausowenig gab es einen Reliquienkult um die von Karl zusammengetragenen
Glaubenszeugnisse. Obwohl Reliquienverehrung für das gesamte Mittelalter
unbestritten ist und Karls Martinsmantel als Reichsreliquie gelten
durfte, verzichteten die Gläubigen wie der Ort Aachen über 400
Jahre lang auf das Vorzeigen der Reliquien (erstmals 1238 [1:332]).
Frage: Was sollten die Gründe dafür gewesen sein, daß Reich und
'Reichshauptstadt' über vier Jahrhunderte auf eine religiöse wie
merkantile Nutzung ihrer Schätze - ob Reliquien, ob Karlsgedächtnis
- verzichtet haben? Und warum registriert Aachen seinen 'Stadtheiligen'
erst dann, wenn er in den Karlsschrein gelegt wird?
3) Antizipierendes Wissen
Hier werden nicht Horst Fuhrmanns "Fälschungen mit antizipatorischem
Charakter" angeführt, da in der laufenden Diskussion immerhin
versucht worden ist, sie in irgendeiner Weise zu motivieren. Es
gibt weitere Anachronismen:
a) Anno 727 n. Chr, erklärte ein merowingischer Computist dieses
Jahr für das 5928. Jahr nach Schöpfung. Damit war für das Jahr
800 n. Chr. der Beginn des siebten und letzten Jahrtausends, der
Endzeit zu gewärtigen (gemäß damaliger Betrachtung zum Fest von
Christi Geburt [2:32; 1:85f]).
Just an diesem Weihnachtsfest von 800 wurde Karl d. Gr. zum Kaiser
gekrönt. Die kurzfristige und zeitweilige Vorverlegung des Jahresbeginns
vom 1.1. auf den 25.12. bestätigte das prophezeite Datum und die
unterstellte Gleichsetzung von Karl dem Großen und Christus als
Weltenherrscher.
b) Die Reichsannalen, die bislang unbezweifelt dem 9. Jh. entstammen,
berichten für das Jahr 807 Himmelsphänomene wie Finsternisse und
sogar Jupiter-Mond-Konjunktion oder Merkur-Sonne-Durchgang mit
einer Präzision, wie sie erst im späten 12. Jh. in Europa wieder
erreicht worden ist. Derartige Planetenkonstellationen sind im
sonstigen frühen Mittelalter nicht aufgezeichnet worden [1:91-96].
c) Der Kirchenhistoriker Beda Venerabilis (gest. 735), der wohl
berühmteste Gelehrte seiner Zeit, hat in seiner Schrift De temporum
ratione die Null nicht nur als Platzhalter verwendet, sondern
auch als Zahl samt den zugehörigen Rechenregeln. Ihre Kenntnis
setzte er bei seinen Lesern voraus [3:117-123].
Nach wohlfundierter Meinung erreichte die indisch-arabische Null
erst Ende des 11. Jhs. Europa und hieß bei Fibonacci cephirum,
später Null. Beda sprach bereits von "nulla". Hätte er sie im
8. Jh. verwendet, müßten seine Schüler und Leser die Null mit
ihren vielen Rechenvorteilen tradiert haben.
Frage: Lassen sich Anachronismen in so eminenten Quellen wie Reichsannalen
oder Bedas Schriften anders erklären als durch ihre Neudatierung
in spätere Zeit?
4) Die Wirtschaft der Karolingerzeit
Es gibt kaum ein Gebiet, in dem die Urteile dermaßen konträr ausfallen
wie bei der karolingischen Wirtschaft. Den Quellen zufolge war
es ein äußerst leistungsfähiges Land: So werden überaus zahlreiche
Großbauten errichtet (für die Zeit von Karl I., Ludwig I. und
Lothar I. nennen die Chroniken 544 Großbauten, also Kirchen, Klöster,
Pfalzen). Es konnte auch unter Karl 40 Jahre lang Krieg führen,
obwohl viele der Feldzüge eigenes Land verwüsteten (das künftige
Herzogtum Sachsen). Es war demnach ein Land mit starker Wirtschaft,
blühendem Handel, geschützten Exportgütern (Eisenwaffen) und kurantem
Geld. Gleichwohl kommt eine ganze Fraktion von Mediävisten zu
dem Schluß, daß die Karlszeit den absoluten Niedergang des christlichen
Europa bedeutete: ohne Städte, ohne Straßen, ohne Fern- und Regionalhandel,
ohne Gold-, dafür mit primitiver Tauschwirtschaft [1:205-210,
149-185].
Frage: Der Widerspruch zwischen einer chronikorientierten ünd
einer evidenzorientierten Sicht des Frankenreichs war bislang
unaumeßbar. Ist noch zu erwarten, daß ohne eine völlige Neuorientierung,
wie sie meine These bietet, diese Widersprüche jemals ausgeräumt
werden können?
5. Quellen contra Archäologie
Nach gängiger Quellenlesung hat Abt Sugar von Saint-Denis für
seinen Bau jene Kirche abreißen lassen, die Pippin d. J. beginnen
und Karl d. Gr. weihen ließ. Sugar wußte außerdem um den Vorgängerbau
von Dagobert I. Die Archäologie zeichnet ein konträres Bild. J.
v. d. Meulen und A. Speer haben den Ostteil des gotischen Baus
sehr genau ergraben [4]. Sie fanden zwar eine Vorgängerkirche,
älter als 585, aber keine Fundamente aus dem 7. oder 8. Jh.
Hier stehen Chronik-Überlieferung und bauhistorische Untersuchung
im schärfsten Widerspruch. Er ist nur auflösbar, wenn man Grundsätzliches
in Frage stellt: Entweder sind sämtliche, der Baustatik nützlichen
Fundamentsteine aus dem Boden entfernt worden oder die Urkunden
lügen.
Frage: Was ist leichter auszuführen, bzw. zu motivieren: Das restlose
Ausgraben von Fundamenten oder das Fälschen von Urkunden, für
das viele Motive vorstellbar sind?
6) Die Gregorianische Kalenderreform
Bekanntlich hat Papst Gregor XIII. anno 1582 zehn Tage in der
Zählung überspringen lassen, damit Kalender und astronomische
Situation wieder in Einklang kommen. Bei den Kennern herrscht
Einigkeit darüber, daß diese Korrektur den seit Caesars Kalendereinführung
auflaufenden Fehhler nur bis ungefähr 320, nicht aber bis Caesar
zurück kompensiert hat.
Erklärt wird dieser Sachverhalt damit, daß auf dem Konzil von
Nicäa (325) entweder eine erste Kalenderreform die fehlenden drei
Tage kompensiert habe oder der Frühlingspunkt drei Tage später
als bei Caesar auf den 23. 3 festgelegt worden sei. Für beides
gibt es keine Konzilsunterlagen; kaiserliche Briefe der Zeit führen
diese Erklärungen ad absurdum [5].
Frage: Gibt es eine andere Erklärung außer der Phantomzeithypothese
dafür, daß Gregor zuwenig Tage korrigieren ließ und gleichwohl
Kalender und Astronomie wieder in Einklang bringen konnte?
Anschließen sei angemerkt, daß unser überaus widersprüchliches
Bild des frühen Mittelalters nur deshalb so lang gewahrt blieb,
weil im Zweifelsfall das Wissen aus den schriftlichen Quellen
den absoluten Vorrang vor dem archäologischen und architektonischen
Befund eingeräumt bekam. Diese keineswegs auf die Mediävistik
beschränkte Haltung [6:23, 126f] scheint eine der größten Hemmungen
beim Wissenszugewinn.
Literatur
1) Illig, Heribert (1996): Das erfundene Mittelalter; Düsseldorf
2) Borst, Arno: (1990); Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte
Europas; Berlin
3) Newton, Robert R. (1972): Medieval chronicles and the rotation
of the earth; Baltimore
4) Meulen, Ja van der/Speer, Albert (1988): Die fränkische Königsabtei
Saint-Denis, Ostanlage und Kulturgeschichte; Darmstadt
5) Coyne/Hoskin/Pedersen (1983): Gregorian Reform of the Calendar;
Citta del Vaticano
6) Finley, Sir Moses (1995): Quellen und Modelle der Alten Geschichte;
Frankfurt