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Über Phantomzeiten
Wo Geschichtszeit um ein paar hundert Jahre aufgefüllt worden
ist, lebten auch die großen Helden: Das interdisziplinäre Bulletin
"Zeitensprünge" spürt seit zehn Jahren Wissenschaftsfiktionen
nach. Eine Lobpreisung
Von Walter Klier
Als meine Generation, um 1970 herum, von der Schule auf die Universität
wechselte, hatten wir vor uns eine Welt des Friedens, der Demokratie
und des Wohlstands, die, was den wissenschaftlichen Fortschritt
betraf, auf eine deprimierende Weise abgeschlossen erschien. Die
weißen Flecken waren nicht nur von den geographischen Karten getilgt:
auf jedem Gebiet war das Wesentliche erreicht, zwischen Psychoanalyse,
Evolutions- und Quantentheorie war die Werkstatt des Geistes mit
allen nötigen Werkzeugen ausgestattet. Man würde immer noch einmal
eine neue Krebstherapie finden, ein radioaktives Element und eine
Galaxis in den Weiten des Alls - aber wen konnte das hoffnungsfroh
stimmen? Die Wissenschaftsgeschichte stellte sich als steiniger,
auch dramatischer Weg auf ein Hochplateau dar, das nun erreicht
und wo nur noch Routinearbeit zu verrichten war.
So ging man erkenntnistheoretisch unfroh in die Volljährigkeit
und studierte eine Geisteswissenschaft. Dort quälte man sich durch
die letztgültige Großtheorie, mit der das Fach in die Unanschaulichkeit
getrieben worden war. Kein Wunder, daß wir Erben des Strukturalismus
unsere Leidenschaft in den Weltmodellen der grün-alternativen
Bewegung unterbrachten. Entsprechend fiel unsere Wissenschaftskritik
aus: universell und verschwommen.
Jetzt, viele Jahre später, wird deutlich, wie ein gelegentliches
wissenschaftliches Bauchgrimmen in die Form der Anekdote gepackt
wurde, wo es, verkapselt und unschädlich gemacht, dennoch klar
in Erinnerung blieb. Da war die Geschichte von dem Biologielehrer,
der seinen Schülern vorrechnete (anhand der Schritte von einer
Froschart zur nächsten), daß die Evolution nach Darwin zu lange
brauchen würde, um in die Erdgeschichte zu passen, selbst bei
den unermeßlichen Jahrmillionen, die ihr zugebilligt werden. Und
da war die Verwunderung in einer Passage in Lewis Mumfords zivilisationskritischem
Wälzer "Mythos der Maschine", wo der Autor darüber sinniert, womit
der Mensch die Altsteinzeit zugebracht haben könnte. An den Funden
sei kein Fortschritt zu erkennen, und das über Jahrhunderttausende.
Das war selbst bei einem urmarxistischen Paradieszustand schwer
zu verdauen. Mumfords Erklärung, der Fortschritt sei auf dem Gebiet
verderblicher Werkstoffe wie Gestricktem, Gewebtem und Gezimmertem
erfolgt oder aber im Ungreifbaren, also der Sprache und Kultur,
befriedigte für zwei Jahrzehnte, blieb aber in der erwähnten Form
als geistiger Unruheherd vorhanden.
Viel später erlebte ich, welchen Aufruhr die Frage einer Zuschreibung
(der unter "William Shakespeare" veröffentlichten Werke) in der
zuständigen Wissenschaft auslösen kann, eine Mischung aus Niederbrüllen
und Totschweigen. Von dem Unbehagen, das einen bei persönlichen
Diffamierungen befällt, abgesehen, war es ein nachgeholter Grundkurs
in Wissenschaftstheorie. Am kleinen Modell konnte ich lernen,
daß die Wissenschaft nicht an Gefährlich-Grundsätzlichem krankt,
etwa am "beschränkten Denkansatz der Aufklärung" und was wir in
bewegten Zeiten Kritisches sagten, sondern an Schlichterem: an
Beamtetheit und der Unlust, das für wahr Gehaltene zur Disposition
zu stellen, wie es der Theorie nach sein muß, wenn Befunde auftauchen,
die dem bisher Geglaubten widersprechen.
Dann schickte ein Freund aus Berlin uns einen Text, den er für
seine (inzwischen eingestellte) Zeitschrift nicht wollte, mit
der (wie wir später erfuhren) scherzhaft gemeinten Frage, ob wir
das nicht hier in Innsbruck für unsere (inzwischen ebenfalls eingestellte)
Zeitschrift brauchen könnten. Ich las den Text beim Frühstück.
Er behandelte eine der Fragen, die mich bis dahin kaum bewegt
hatten: ob das frühe Mittelalter nicht "in Wirklichkeit" um einiges
kürzer gewesen sei als angenommen. Ich mußte furchtbar lachen;
nicht wegen Lächerlichkeit. Es war das befreiende Aha-Lachen,
das man als das Gegenstück zum erwähnten erkenntnistheoretischen
Bauchgrimmen bezeichnen kann. Was ich las, klang aberwitzig, doch
war der logische Haken zunächst nicht zu entdecken. Ich gab den
Text, noch glucksend, meiner Mitherausgeberin über den Frühstückstisch;
sie fand den Haken auch nicht. So druckten wir ihn, und der Haken
hat sich bis heute nicht gefunden. Das zugehörige Buch von Heribert
Illig ist längst erschienen, und die Preisfrage - "Hat Karl der
Große je gelebt?" - schwelt und knistert in den Medien und an
den Fakultäten weiter.
Illig gibt zusammen mit dem an der Uni Bremen wirkenden Genozidforscher
Gunnar Heinsohn seit zehn Jahren eine Zeitschrift mit dem merkwürdigen
Namen Zeitensprünge. Interdisziplinäres Bulletin (vorm. Vorzeit
- Frühzeit - Gegenwart) heraus, die sich nichts weniger als eine
Gesamtrevision unseres wissenschaftlichen Weltbildes vorgenommen
hat - aber auch nicht mehr: Alles Übersinnliche und Hildegard-von-Bingen-
Mäßige bleibt streng außen vor. Auf den viereinhalbtausend Seiten
der Zeitensprünge sind an die hundert Autoren zu Wort gekommen;
der thematische Bogen ist so groß wie die Nehmerqualitäten, die
vom Leser gefordert werden. Doch - wie es in meiner Jugend hieß:
"Wenn man es einmal gewöhnt ist, ist man ganz verrückt drauf."
Ausgangspunkt war für die Gruppe um Illig und Heinsohn das Werk
des Neokatastrophisten Immanuel Velikovsky (1895 bis 1979). Dieser
war bei dem Versuch, die biblische Geschichte mit der antiken
zu synchronisieren, auf eine Reihe von Katastrophenberichten aufmerksam
geworden, die zu den in der Bibel beschriebenen passen, ebenso
zu seltsamen fossilen und anderen Funden, die von Geologie und
Biologie nur schwer einzuordnen waren und deshalb ignoriert wurden.
Seit vor einigen Jahren der Komet Shoemaker-Levy kinoreif in den
Planeten Jupiter krachte, wird der Katastrophismus wieder hoffähig,
allerdings nur solange an den unendlichen Zeiträumen nicht gerüttelt
wird, in denen sich unsere Erde und das Leben auf ihr, letztlich
störungsfrei, entwickelt haben sollen.
In der Folge erschien die Chronologie des alten Ägypten als zweifelhaft
und in jedem Fall zu lang und damit die an ihr orientierte ganze
alte Geschichte. Nach Besuchen bei Fach- und Sonderwissenschaften
wie der Numismatik oder Glasfachkunde kann soviel jedenfalls gesagt
werden, daß wir uns weniger wundern müssen als bisher, darüber
etwa, daß die alten Ägypter, im Gegensatz zu uns Heutigen, kein
Eisen gebraucht hätten, um den in den Pyramiden verbauten Granit
zu bearbeiten. Die Pyramiden werden, um in der Illig-Heinsohnschen
Terminologie zu bleiben, in die Eisenzeit "verbracht". Manchmal
purzeln ganze Serien von "Rätseln" dominoartig dahin.
Zur Methodik schreibt Illig im Jubiläumsheft 4/98: "Wir haben
Meinungen vertreten, die soviel öffentliche Aufmerksamkeit fanden,
daß sich Mediävisten, Kunsthistoriker, Astronomen, Physiker und
Dendrochronologen zu Antworten verpflichtet oder genötigt sahen.
Hierbei zeigte sich, daß unsere Einschätzung als ,Häretiker' besser
ist als Begriffe wie ,Alternative' oder ,Außenseiter'. Denn unsere
Vorgabe, wissenschaftlichem Ansatz möglichst zu folgen, hat dazu
geführt, daß wir von der Methodik her konservativer als viele
Wissenschaftler wirken - wenn wir zum Beispiel Stratigraphien
peinlicher beachten als die chronologischen Umwerter von Ausgrabungen
-, während wir vom Denkansatz her viel progressiver sind als pfründewahrende
Wissenschaftler."
Wie sich zeigt, ist die ältere Geschichte voller "Phantomzeiten",
die gefüllt wurden, etwa um dem eigenen Staat und Herrscherhaus
Dauer und Glanz zu verleihen. Wie es der Teufel will, finden sich
gerade die glänzendsten Figuren in solchen Zeiten, wie Alexander
der Große oder Hannibal. Am meisten Aufsehen und Ärger hat Heribert
Illig mit der "jüngsten" Phantomzeit erregt, jener zwischen 614
und 911 n. Chr. Daß diese Epoche allzu "leer", an Quellen, Bauten,
archäologischen Schichten, ist, hat man gewußt, auch daß die meisten
Urkunden, die aus dieser Zeit stammen sollen oder sich auf die
beziehen, spätere Fälschungen sind.
Die nähere Befassung mit dem Aussetzen und übergangslosen Wiedereinsetzen
von Traditionen, dem Fehlen von Dingen, die eigentlich hier sein
müßten, eskalierte auf gut katastrophistisch zum medialen GAU,
als Illig sich der überlebensgroß inmitten dunkler Jahrhunderte
thronenden Gestalt jenes Karls annahm, von dem der gesamte europäische
Adel abstammt, dazu die beiden Nationen Deutschland und Frankreich.
Vom großen Karl bleibt eine schöne Geschichte, erfunden und im
Lauf des Hochmittelalters zu immer größerer Farbigkeit ausgemalt.
Im bisher letzten Heft geht es unter anderem um die nacheiszeitliche
Waldgeschichte Mitteleuropas, die Ermittlung der Urheberschaft
von Kunstwerken und die Methoden der Altersbestimmung für die
Nacheiszeit. Für den Verfasser dieser Zeilen ist die erkenntnistheoretische
Trübsal einem viermal jährlich entzündeten Feuerwerk gewichen.
Die Empfehlung für das interdisziplinäre Bulletin Zeitensprünge
sei mit einer Warnung verbunden: Der vergnügliche Konsum wissenschaftlicher
und populärwissenschaftlicher Werke und der entsprechenden TV-Programme
wird einem leicht vergällt. Man entdeckt hinter dem selbstgewissen
Dröhnen, mit dem uns gerade die Wunder der Evolution oder das
unermeßliche Alter dieser oder jener Kultur erklärt wird, Fragwürdigkeiten
aller Art. Aber so sollte es doch sein: "Bevor ich mich zu sehr
wundere, glaube ich es lieber nicht." (Lichtenberg)
"Zeitensprünge. Interdisziplinäres Bulletin." Vierteljährlich
hrsg. von Heribert Illig und Gunnar Heinsohn.
Mantis Verlag, Lenbachstr. 2a, 82166 Gräfelfing.
Im Abonnement jährlich 70 DM
taz Nr. 5749 vom 30.1.1999 Seite 13 Kultur 303 Zeilen Kommentar
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