Karl der Einfältige (898/911-923)
Ist er mit Carolus-Münzen und KRLS-Monogrammen lediglich ein nichtswürdiger Imitator Großkarls oder liefert er das Urmuster für den Überimperator und die restlichen frühmittelalterlichen Karls-Kaiser?
Gunnar Heinsohn
I. Die Initiation des Sammlers mittelalterlicher Münzen
Angehende Münzsammler werden von professionellen Ratgebern gerne damit ermutigt, dass sie insbesondere für das Mittelalter durchaus noch eigen-ständige Funde machen können. Immer wieder werden nicht nur Varianten bereits bekannter Münzen, sondern auch bisher nie gesehene Typen entdeckt. Dem ambitionierten Novizen wird aber auch umgehend nahe gebracht, wie er sich verhalten muss, wenn er seine Passion mit wissenschaftlichem Anspruch nachgehen will. Um ein gekauftes - und erst recht ein selbst gefundenes - Stück im Sinne der Fachdisziplin einordnen zu können, muss er genaue Kenntnisse der Zeitskala besitzen, denn Münzen „dienen [...] der Chronologie“ [Gras-ser 1976, 8]. Überdies muss er über eine „Regententabelle“ [ebd., 310] verfügen, damit er seinen Fund dann einem bestimmten weltlichen oder kirchlichen Herren korrekt zuweisen kann.
Dem angehenden Sammler wird also nicht aufgetragen, mit Hilfe seiner Entdeckung und der zugehörigen archäologischen Fundlage eine vorgefundene Chronologie oder die gerade gelehrte Herrscherliste auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen oder sie gar in Frage zu stellen. Vielmehr soll er ihr „dienen“. Der Außenstehende würde vielleicht vermuten, dass Wissenschaftlichkeit sich gerade durch einen solchen Prüfauftrag zu definieren hätte. Die Fach-mediävistik jedoch sieht das ganz anders. Man tritt ihr mit der Unterstellung keineswegs zu nahe, dass der herrschende Zeitrahmen für die Geschichte das härteste Dogma der Geisteswissenschaften abgibt. Es lässt sich über fast alles - Motive, Ursachen, Auswirkungen etc. - innerhalb der Geschichte kontrovers diskutieren, aber die Platzierung der Ereignisse und Herrscher auf der Zeitskala gilt mindestens ab dem -1. Jtsd. als unumstößlich. Die Chronologie ist heilig.
Nicht nur der gestandene Professor, sondern jeder Gebildete versteht sich als Kenner der Chronologie, weil er ihre Jahreszahlen ja permanent verwendet. Die besten Köpfe unterscheiden sich von den weniger begnadeten lediglich dadurch, dass sie die wichtigsten Daten und Namen der Geschichte auswendig hersagen können - oft schon seit der Schulzeit. Wer die Jahreszahlen nicht im Kopf hat, kennt zumindest renommierte Geschichtswerke, in denen er sie schnell und - da ist er überzeugt - zuverlässig nachschlagen kann.
Nirgendwo auf der Welt gibt es Studiengänge oder wenigstens Fachinstitute, die sich mit den Grundannahmen und Kontroversen aus den Zeiten der Erstellung der heute gelehrten Chronologie befassen. Regelmäßige Vorlesungen über die Geschichte der Chronologiebildung werden nicht angeboten. Selbst Blicke auf einzelne Aspekte der Chronologie durch sogenannte Hilfswissenschaften bilden die Ausnahme. Zentralprobleme wie die Diskrepanz zwischen Menge und Länge der historischen Epochen in den Lehrbüchern und den stratigraphisch wirklich ergrabenen Stufen der Geschichte in der Erde bleiben in den Universitäten dieser Welt ohne systematische Behandlung.
Dass die heute gelehrte Weltchronologie zwischen dem 10. und 17. Jh. zusammengestückelt worden ist und bereits mit den Werken des Franko-Italieners Joseph Justus Scaliger (1540-1609) De emendatione temporum (1583) sowie Thesaurus temporum (1606) kanonisiert war, gehört nicht zum gymnasialen Wissenskanon. Es gab damals keine Quellenkritik, keine Archä-o-logie, keine internationalen Abgleiche und keinerlei natur-wissenschaftliche Methoden. Dennoch hätten die Chronologiebastler wie durch höhere Fügung im wesentlichen gleich alles richtig gemacht. Warum lichte Köpfe wie Isaac Newton [1728] noch über hundert Jahre später diese Kombinationen aus frommen Überlieferungen und mystischen Zahlen-rhythmen zurückgewiesen haben, wird nicht zu Gehör gebracht.
Gleichwohl werden dem Sammler mittelalterlicher Münzen diese Sachverhalte nicht eigentlich verschwiegen. Er hört dazu vor allem deshalb rein gar nichts, weil die Autoren der fachlichen Ratgeber ohne jeden Arg den Glauben an die Heiligkeit der Chronologie und der in sie eingefügten Herrscherlisten teilen. Sie können ihre Leser schon deshalb nicht täuschen, weil sie ohne jedes Bewusstsein darüber sind, dass sie mit der Chronologie ein von fehlbaren Menschen aufgestelltes Dogma vertreten.
II. Karl der Einfältige
(898[König]/911[Imperator]-923; geb. 879, gest. 929):
Imperialer karolingischer Dynastiestammvater und angeblich beschämender Imitator der übrigen karolingischen Karle
Den 1090. Geburtstag Frankreichs feiert mancher am 20. Dezember 2001, denn am 20. Dezember 911 soll Karl der Einfältige sich erstmals nicht nur - wie seit 898 - ohne ethnische Spezifikation als König (rex), sondern als rex Francorum bzw. König der Franken bezeichnet haben. Es sei durch ihn an diesem Tag - allerdings an unbekanntem Ort - das erste Diplom für Lothringen begeben worden, dessen Gewinn seine Großreichsposition bestätigt. Kurze Zeit später - im Januar 912 - habe Karl dann auch unstrittig im lo-thrin-gischen Metz residiert. Seine Wege sind nicht immer leicht nachzuvollziehen, weil so viele seiner Urkunden unter noch nicht geklärten Umständen verloren gegangen sind. Man geht - 1949 - davon aus, dass lediglich 27 Originale aus dem 10. Jh. erhalten sind. Von weiteren 97 Akten gibt es bestenfalls spätere Erwähnungen und Kurzauszüge oder auch sogenannte Kopien, deren Wahrheitsgehalt nicht geprüft werden kann, da sie erst zwischen dem 12. - 15. Jh. verfertigt wurden und von den Originalen nicht ein einziger Schnipsel gefunden werden konnte [Lauer 1949, I ff.].
Die Nachfolger Karls haben den rex Francorum-Titel dann im Sinne von König der Franzosen und nicht so sehr vom König der Franken bis 1223 (Tod Philipps II. August) weiter verwendet. Nach über 300 Jahren also sind sie erst zum rex Franciae übergegangen. Die Mediävistik ist verwundert darüber, dass Karl den Titel rex Francorum zwar zu seiner Zeit wie eine Neuschöpfung aussehen lässt, in Wirklichkeit aber nur ein Imitat der „frühen Karolinger“ liefert [Schneidmüller 1991, col. 970; s. bereits Eckel 1899, 97], die selbst nach rätselhafter Pause von weit über hundert Jahren an die Verwendung dieses Titels bei den Merowingern anknüpfen. Denn des Einfältigen voller Name (Intitulatio) aus dem Jahre 911 lautet Karolus divina propitiante clementia rex Francorum vir illustris. Er ist identisch mit dem Titel zweier früherer Karle - Großkarl „zwischen 769 und 774 sowie Karlmann zwischen 769 und 772“ [Ehlers 1985, 25]. Das Kürzel R F findet sich sogar schon auf Münzen, die in das Jahr 754 Pippins des Kurzen platziert werden.
In der Titulatur wird von Karl dem Einfältigen also nicht nur anderthalb Jahrhunderte zurückgegriffen, sondern überdies auch gleich noch ein zweites Mal der Beginn eines universalen Frankenreiches feierlich markiert. Das gilt als mysteriös, weil mit dem Bonner Reichsteilungsvertrag von 921 - dazu gleich mehr - gerade während der Herrschaft Karls die Teilung des Frankenreiches in Ost und West, in Deutschland und Frankreich erfolgt.
Warum der rex Francorum-Titel vor Karl dem Einfältigen verloren gehen konnte bzw. warum mit ihm zweimal - zuerst unter Großkarl/Karlmann und dann wieder unter dem Einfältigen - begonnen wurde, ist der Mediävistik niemals verständlich geworden. Denn anschließend hat man keinerlei Schwierigkeiten damit, den Titel über etliche Jahrhunderte ungebrochen durchzuhalten. Zwischenzeitlich - so wird einstweilen spekuliert - sei das Francorum überflüssig geworden bzw. habe das bloße rex ausgereicht, weil kein „christliches Königtum vorhanden war, von dem sich das fränkische durch ethnischen Zusatz hätte abheben müssen“ [Ehlers 1985, 26].
Hier gelingt den Gelehrten in ihrer Erklärungsnot eine interessante Kapriole. Weil Karl seine 898 begonnene Großreichspolitik für alle Franken schließlich aufgeben musste - allerdings erst im Jahre 921 zu Bonn (dazu gleich mehr) - hat er schon im Jahre 911 mit seiner Intitulatio signalisiert, dass er eigentlich nur eine französisch „regionale Konsolidierungspolitik vorantreiben“ wollte [Ehlers 1985, 26 f.]. Weil sich Karl in der Tat am Ende auf das Franzosenreich beschränken muss, habe er in Wirklichkeit auch nie etwas anderes gewollt.
Nach dieser Lehre mache sich also Karl im Jahre 898 sehr erfolgreich an das Schmieden eines Großreichs, das er 911 mit dem Gewinn Lothringens auch realisiert. Dann jedoch scheitert er im Jahre 921. Er habe dieses Fiasko aber nicht nur vorausgeahnt, sondern von vornherein erstrebt und sich deshalb listigerweise schon auf dem Höhepunkt seiner imperialen Macht im Jahre 911 einen Titel (rex Francorum) zugelegt, der nicht nur als Franken-, sondern auch als bescheidener Franzosenkönig gelesen werden kann. Im Angesicht der Niederlage konnte er dann unschuldig verlautbaren: &Mac226;Ihr Toren, ich wollte eh’ nur das kleine Franzosenland und nicht als Kaiser das ganze Frankenland. Nicht ich habe verloren, sondern ihr seid alle an der Nase herumgeführt worden’.
Solch atemberaubender Gedankenaufwand - nicht Karls, sondern der Mediävistik - hätte sich längst erübrigt, wenn die Möglichkeit einer Fehlverwendung von Dokumenten Karls des Einfältigen, die jetzt als verloren gelten, für die quellenmäßige Unterfütterung fiktiver früherer Karle ins Auge gefasst würde. Dafür jedoch müsste die Mediävistik über sich selbst nachdenken und nicht über allerlei Durchtriebenheiten Karls des Einfältigen.
Erst siebzig Jahre nach dem Tode Karls (929) erscheint in der Literatur ab etwa 1000 der cognominatus simplex (in den Miracula s. Apri aus Toul). Man wollte damit womöglich die Schlichtheit bzw. Gutmütigkeit des Herrschers zum Ausdruck bringen, so dass auf Deutsch besser vom einfachen als vom einfältigen Karl zu reden wäre. Von direkten Zeitgenossen gibt es allerdings nichts, was auf einen verminderten Status Karls vor 921 verweist. Das alles gehört schon in die frei schaffende Historiographie und nicht in die belegbare Geschichte.
Man sollte erwarten, dass eine Nation über ihren ersten König sehr gut Bescheid weiß, sich zumindest entschieden für ihn interessiert. Für Karl hingegen ist das wissenschaftliche Interesse immer bescheiden gewesen. Ihm zuzuweisende Karolus-Dokumente seien - aufgrund der immer wieder beklagten Verluste - extrem rar. Das erstaunt, weil er ja spät kommt und in die ab dem 10. Jh. einsetzende Blütezeit des Mittelalters hineinführt. Da sollte der Stoff gerade reichlicher fließen. Hingegen hat man früheren Karolus-Figuren aus der eher dunklen Zeit des 8. und 9. Jhs. ungleich mehr Dokumente und Münzen zugewiesen.
Für Karolus Simplex wird es 1844, bis ihm erstmals eine - gerade fünfzigseitige - Broschüre gewidmet wird [Borgnet]. Insgesamt braucht es von Karls Titulatur rex Francorum 988 Jahre, bis die erste veritable Monographie über ihn erscheint. Erst im Jahre 1899 nämlich legt Auguste Eckel mit Charles le Simple eine schmales Bändchen von 168 Seiten vor. Es ist bis heute das einzige geblieben, weshalb es im Jahre 1977 in einem Reprint von neuem zugänglich gemacht wurde.
Es mutet bei erstem Zusehen ein wenig paradox an, dass die These von der Existenzlosigkeit des dreihundertjährigen Frühmittelalters aus der bautenlosen Zeit vom frühen 7. bis zum frühen 10. Jh. gerade den einfältigen Karl, über den man doch so rätselhaft wenig weiß, als realen Karolinger in den Büchern belässt:
„Zum besseren Verständnis sei hier eingeflochten, dass [...] in Westfranken von 911 bis 987 eine Karolingerlinie in der Geschichte und an der Herrschaft bleibt. So ließe sich auch die immer wieder gestellte Frage, ob es nicht doch einen &Mac226;kleinen’ Karl gegeben habe, der dann groß gemacht wurde, dahingehend beantworten, dass &Mac226;der zur Hälfte reale’ Karl der Einfältige (879-929, reg. 898-922) zum Namenspatron für einen äußerst klugen und großen Karl gemacht worden sein könnte“ [Illig 1998, 60 f.; s.a. 1999a, 80].
Der Autor hat sich der These von Simplex-Karl aus dem 10. Jh. als der Originalvorlage für die anderen bzw. &Mac226;früheren’ karolingischen Karle des 8./9. Jhs. angeschlossen [Heinsohn 1997]. Für Simplex müssen die an sich schon spärlichen echten Dokumente und Münzen deshalb - und keineswegs rätselhaft - so rar sein, weil die meisten von ihnen für die fiktiven Karle der archäologielosen Zeit zwischen 750 und 900 in Einsatz gebracht worden sind.
Ungeachtet ihrer Nöte mit der Interpretation und Quellenarmut von Karolus Simplex ist für die herrschende Lehre doch unstrittig, dass schon die kargen Überbleibsel seinen „Anlauf zu karolingischer Hegemonialpolitik“ [Schieffer 1977, 187] unmissverständlich herausstellen. In seinen imperialen Zielen muss sich Simplex also vor Figuren wie Großkarl, Kahlkarl und Dickkarl nicht verstecken. Ab 898 verfolgt er „sein Konzept karolingischer Restauration“ [Ehlers 1985, 25]. Und wie Großkarl führt er ein kaiserliches Siegel mit Lorbeerkranz [3 Abb. bei Lauer 1949, Taf. IV], obwohl die Mediävisten ihn als Kaiser nun wirklich nicht wollen. Simplex-Karl unterscheide sich von Großkarl und den übrigen Karlen allerdings elementar dadurch, dass er nun einmal lediglich der „letzte“ Karolinger gewesen sei, der - nur kurzfristig und obendrein unvollkommen - von 911 bis 921 West- und Ostfranken in einem Großreich zusammenfassen konnte. Allerdings sei er nicht einmal dabei Kaiser gewesen (Abb. 2).
[Ein so gut wie ununterscheidbares Monogramm Karls des Einfältigen zeigt <http://medievalwriting.50megs.com/exercises/charldiploma/structure2.htm> (Entdeckt in einem Posting Timo.v.Burgs in der Internet-Newsgroup dsg am 1.1.02) - Anmerkung von G.L.]
Karls bitterer Bonner Reichsteilungsvertrag vom 7. November 921, den er 911 schon listig vorausgesehen habe, bringt formal die Entstehung Deutschlands - mit Heinrich I. - und Frankreichs mit ihm selbst als Herrscher. Diese Teilung von West- und Ostfranken verstört dadurch, dass sie wie eine Nachahmung des Teilungsvertrages aus dem Jahre 843 (Verdun) anmutet, der in die zur Streichung vorgeschlagene 300-Jahr-Periode fällt. Die Mediävistik hat sich [Ehlers 1985, 11] bekanntlich keinen Reim darauf machen können, dass das im Ergebnis von Verdun
„Karl dem Kahlen zugefallene Westreich im wesentlichen die Ostgrenze zum mittelalterlichen deutschen Reich seit 925 vorwegnahm.“
Die 925er Grenze ist die von Karl dem Einfältigen in Bonn akzeptierte. Die merkwürdige historische Verdopplung der Grenzziehung - einmal 843 und dann wieder 921 - würde bei Streichung von 300 Jahren zwischen dem 7. und 10. Jh. entfallen. Es gibt aber auch noch die Verdreifachung des 921er Teilungsvorhabens im Wormser Reichstag von 829 sowie seine Vervierfachung in der Divisio regnorum von 806. Die Vierfachverwendung lediglich einer Reichsteilung durch die Mediävisten wäre mithin das Resultat ihrer Not, leere Zeiträume mit Aktivität beleben zu müssen.
Die Titulaturen Karls und Heinrichs unter dem Bonner Vertrag von 921 machen nun vollends deutlich, dass Karls rex Francorum von 911 nie und nimmer eine Beschränkung auf das Franzosenland und den Verzicht auf eine Kaiserposition des vir illustris ausgedrückt haben kann, sondern auf ein fränkisches Imperium zielte und nichts sonst. Denn beide Herrscher nennen sich in Bonn rex Francorum. Karl erhält nun jedoch den mindernden Zusatz occidentalium und wird damit König der westlichen Franken. Heinrich hingegen erhält den Zusatz orientalium und wird damit auf das Königtum der Ostfranken beschränkt [Ehlers 1985, 30]. Hätte Karl schon 911 das Projekt lediglich eines Franzosenlandes vorangetrieben, dann hätte er sich eben damals schon als rex Francorum occidentalium bezeichnen müssen. Es ist in diesem Jahre 2001 am 7. November also erst der 1080. und nicht schon - bezogen auf 911 - der 1090. Geburtstag Frankreichs zu feiern. Auch Deutschland erreicht am selben Tag dasselbe Alter - keine Bonner Republik, aber halt doch das Bonner Reich.
Dafür könnte man am 20. Dezember 2001 die 1090. Wiederkehr des Gründungstages des fränkischen Groß- und Kaiserreiches begehen. Es dauerte nicht von 614 (ab Arnulf von Metz gerechnet) oder 751 (ab Pippin dem Kurzen gerechnet) bis 921, sondern nur ein Jahrzehnt von 911 (rex Francorum-Titulatur Karls) bis 921 (Bonner Reichsteilung zwischen Karl als nur noch rex Francorum occidentalium und Heinrich als nun immerhin rex Francorum orientalium).
Die Kindheit Karls, die jetzt an das Ende des 9. Jhs. datiert wird (879-895), gehört dann realhistorisch - bei Wegfall von 300 Phantomjahren - an die Wende vom 6. zum 7. Jh. Wie Großkarl einem Pippin folgt, gerät durch die Streichung von drei Jahrhunderten auch der imperiale Karolus Simplex in die Zeit eines Pippin, also des großen Majordomus (Hausmeiers), der im 6./7. Jh. lebt und zusammen mit Arnulf von Metz das Chaos im merowingischen Austrien machtvoll beendet (dazu gleich mehr).
Sich überhaupt einem Großreichsprojekt verschrieben zu haben, trägt Karolus Simplex immer wieder strengen Tadel aus der Mediävistik ein. Der „übersteigerte Anspruch auf Herrschaft über alle Franken“ [Schneidmüller 1991, 970] passe eben nur zu einem Großkarl und wird Simplex entschieden übel genommen. Bei einem Letztkarolinger verkomme dieser Ehrgeiz zu einer regelrechten Kaiserpersiflage. Gleichwohl ist für die herrschende Lehre unstrittig, dass Karl der Einfältige ganz wie sein angeblicher Urahn als Dynastiengründer auftritt. „Als Stammvater einer neuen und letzten, nur noch westlichen Karolingerlinie“ [Schieffer 1977, 187] von 911- 987 werde er aber eben nur zum Gründerkönig des Franzosenreiches, nicht jedoch eines universalen Imperiums der Franken.
Nun ist durchaus die Pointe versucht worden, das Werden Europas nicht so sehr an die legendäre Kaiserkrönung Großkarls von 800 zu binden, sondern an Karl den Einfältigen als „letztem“ der gesamtfränkischen Karle. Europa ist - so Walter Schlesinger [1965, 794] - „zwar nicht aus dem Karlsreich, aber doch aus der Auflösung des Karlsreiches entstanden“, die Karolus Simplex 921 besiegelt. Wenn man aus dem „nicht aus dem Karlsreich“ ein „nicht war das Karlsreich“ machte, könnte der Satz Sinn gewinnen. Es ist dann nur ein einziger Karl, der - nach den zerstrittenen Franken der Merowingerzeit des frühen 7. Jhs. - für lediglich eine Dekade das fränkische Großreich realisiert, es dann aber nicht halten kann und die Bildung einer deutschen Nation mit ihrem rex Francorum orientalium und einer französischen Nation mit ihrem rex Francorum occidentalium entschieden wider-willig hinzunehmen hat.
„Denn es war natürlich eine gravierende &Mac226;capitis diminutio’ [Hauptesverminderung], dass Karl III. seinen Titel als rex Francorum mit Heinrich I. teilen musste“ [Brühl 1990, 173].
Das Unbehagen der modernen Historiker an Karl dem Einfältigen ist fast in jedem ihrer Texte mit Händen zu greifen. Er komme nicht nur spät, sondern schaffe dann mit dem zehnjährigen Großreich nichts wirklich Großes oder doch nichts Neues und benehme sich dabei entweder unglaublich listig oder unerträglich unreif, aber niemals kaiserlich. Denn er stiebitzte nicht nur den Titel rex Francorum. Obendrein „ahmte [er] Monogramm und Siegel Karls des Großen und Karls des Kahlen nach“ [Schneidmüller 1991, col. 979]. Sogar volle drei Karle - Karlmann, Großkarl und Kahlkarl - werden da von Karolus Simplex ausgebeutet, um eigentlich nur ein kleines Franzosenland zu repräsentieren. Wir werden sehen, dass er bei der Münzprägung den Text- und Formenschatz von noch mehr Karlen hemmungslos zu plündern scheint. Auch da führt er sich auf wie ein Kaiser, der er nach herrschender Mediävistik in keinem Falle sein darf. Erstaunlicherweise und doch konsequent erwähnt Simplex nicht einmal die ihm angeblich vorangehenden und imitierten Karle.
Karl der Einfältige würde vor der Zunft der Mediävisten ganz anders dastehen, wenn er all die für ihn unstrittigen Dinge als Erster gemacht hätte. Aber durchweg nur abzukupfern und nachzuahmen und dabei doch immer wieder nur wie ein blutiger Anfänger auszusehen, mutet so dreist und zugleich unbedarft an, dass die Historiker sich mit ihrer Geringschätzung des Mannes kaum genug tun können.
III. Verblüffende historische Parallelen zwischen dem Frankenreich des 6./7. und des 9./10. Jahrhunderts
Bevor wir uns weiteren Übereinstimmungen zwischen Karolus Simplex und den anderen Karlen zuwenden, sei noch einmal in Erinnerung gerufen, welche historischen Konstellationen der Franken bei Streichung von etwa drei frühmittelalterlichen Jahrhunderten direkt aneinander rücken würden. Es ist ja längst gesehen worden [Illig 1999a, 79 f.], dass im frühen 7. und im frühen 10. Jh. diejenigen Gebiete, die heute von Frankreich und Deutschland eingenommen werden, mit verblüffend ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Das Machtloswerden der Zentralgewalt in Paris stellt dabei die bekannteste Parallele dar. Sie ist auch der herrschenden Lehre wohl bekannt. So hatte Karl der Einfältige zu Beginn des 10. Jhs. hinzunehmen,
„dass das bedeutende weltliche und geistliche Königsgut des Pariser Raumes nicht etwa ihm selber heimfiel, sondern an Robert überging. Karl duldete und sanktionierte in solcher Weise die vorerst freilich noch fluktuierende Ausformung starker Mittelgewalten, der großen französischen Lehnsfürstentümer“ [Schieffer 1977, 185].
Diese Adligen beginnen denn auch im 10. Jh. mit eigenen Münzprägungen [Poey d’Avant 1858]. Ganz ähnlich forderte 300 Jahre zuvor
„der Adel auf der Synode und Reichsversammlung zu Paris (614) seinen Anteil an der Herrschaft. [...] Die Grafen sollten in Zukunft nur aus den im Gau eingesessenen Grundbesitzern ernannt werden. [...] Der Graf war nicht mehr nur Beamter, sondern Fürst in seinem Gau, Teilhaber an der Herrschaft im Reich“ [Löwe 1964, 102].
Merkwürdigerweise fehlen dann aber die zu erwartenden Adelsmünzprägungen.
Zweimal im Zeitraum von 300 Jahren wird hier die römisch-kaiserliche Verwaltungsstruktur ausgehebelt bzw. „germanisiert“. Diese Synthese „römischer und germanischer Elemente“ [Löwe 1964, 102] macht zum Abschluss der Eroberung des römischen Imperiums durch germanische Stämme im 6./7. Jh. ihren Sinn. Warum sich die Germanisierung nach drei Jahrhunderten germanischer Herrschaft im 9./10. Jahrhundert dann noch einmal abgespielt haben soll, ist immer unbegreiflich geblieben.
Die Parallelen zwischen dem frühen 7. und dem frühen 10. Jh. enden jedoch nicht mit dem zweimaligen Mächtigwerden des französischen Adels. Sie sind aus jedem historischen Kompendium (für die Merowinger etwa Bleiber [1988] oder Ewig [1988]; für die Karolinger zahllose Studien) leicht herauszuziehen und sollen hier nur tabellarisch präsentiert werden:
Es sind solche Parallelen und die dazwischen liegende dreihundertjährige Zeit ohne archäologisch nachweisbare Bauten, aus der die Phantomzeitthese gewichtige Argumente zieht. In die 300 Jahre fallen nicht nur 150 karolingische, sondern davor auch 150 sogenannte Zerfallsjahre des Merowingerreichs, dessen klerikale Gliederung in Abb. 1 gezeigt wird.
IV. Das Monogramm Karls des Einfältigen und weiterer Karle
Wenn jemand Großkarl prägnant verdichten will oder einem Leser blitzartig signalisiert werden soll, dass es nun um den Überkaiser geht, wird das Karlsmonogramm gewählt. Man könnte sagen, die Beschreiber Großkarls haben gar keine andere Wahl. Sie müssen das Signum KRLS wählen, um die Einzigartigkeit des Mannes unzweideutig präsent zu machen. Als 1965 das gewaltige Kompendium Karl der Große: Lebenswerk und Nachleben in fünf Bänden erschien [Beumann et al. 1965-68], prangte auf jedem Leineneinband in Gold das KRLS-Monogramm und sonst nichts. Als 35 Jahre später aus der Bremer Mediävistik Karl der Große: Herrscher des Abendlandes. Biographie [Hägermann 2000] in einem dicken Folianten herauskam, schmückte auch dessen Leineneinband nur ein goldenes Karlsmonogramm (Abb. 3). Einem möglichen Vorwurf mangelnder Originalität ist der Bremer Autor durch Auswahl einer anderen Ausführung des KRLS-Monogramms zuvorgekommen (Abb. 4).
So versessen sind die Großkarl-Autoren auf das Außerordentliche &Mac226;seines’ KRLS-Monogramms, dass sie den Leser gern im Unklaren darüber lassen, dass auch andere Karle dieses Signum zur Unterzeichnung von Dokumenten und zur Beschriftung von Münzen verwendet haben. Am ehesten erträgt man noch Kahlkarl, weil der ja auch Kaiser gewesen sei. Aber mit Karolus Simplex, der das KRLS-Monogramm ebenfalls führt, tut man sich extrem schwer. Man kann sich einfach keinen Reim darauf machen, dass der sich anmaßt, monogrammatisch als Kaiser daherzukommen. Der Mann wirkt einfach großtuerisch und peinlich. Selbst so ein ungemein genauer und mit seinem archivalischen Fleiß restlos imponierender Autor wie Clemens Maria Haertle unterschlägt Karolus Simplex in einer Gesamtübersicht der karolingischen Münzmonogramme (Abb. 5), obwohl er über die Simplex-Münzen ausführlich berichtet. In diesen Einzelbeschreibungen weist er dann das KRLS-Monogramm fünfzehnmal für Simplex nach [Haertle 1997, 875, 890, 901, 907-911].
Wo explizit einmal darauf hingewiesen wird, dass der Einfältige „Monogramm und Siegel Karls des Großen und Karls des Kahlen nach[ahmte]“ [Schneidmüller 1991, col. 979], werden die Imitate dem Leser gleichwohl nicht gezeigt. Sind sie so plump gehalten, dass man sie gleich erkennen kann oder haben sie die Qualität echter Fälschungen? Wie aber könnte da einer fälschen, ohne den Zeitgenossen aufzufallen? Was hätten denn seine Vertragspartner von ihm denken müssen, wenn er sich statt Abzeichnung mit einem eigenständigen kleinfranzösischem Signum plötzlich mit einer längst außer Gebrauch gekommenen KRLS-Unterschrift von fränkischen Kaisern wichtig machte?
Veröffentlicht sind zwei Versionen des KRLS-Signums auf Karolus Simplex-Urkunden (Abb. 6) seit über einem halben Jahrhundert [Lauer 1949]. Als der Autor sich das einschlägige Werk in der Bibliothek der Universität Bremen - einem Zentrum der Großkarlsforschung - besorgte, war es noch nicht einmal aufgeschnitten. Man erkennt an den Abbildungen umgehend, dass die &Mac226;Nachahmungen’ keine vagen Annäherungen an das &Mac226;Original’ oder gar plumpe Verschleifungen darstellen, sondern von Großkarls KRLS-Signum nicht zu unterscheiden sind, wenn man davon absieht, dass eben jede Monogrammausführung als Handarbeit ein Unikat darstellt.
Auch in der herrschenden Lehre ist man sich darüber einig, dass von gut 250 Urkunden, die momentan Großkarl zugewiesen werden, schon jetzt über 100 als Fälschungen ausgeschieden werden müssen. Bei den Merowinger-urkunden sieht man den gefälschten Anteil sogar bei über 60 Prozent [Kölzer 2001]. Auch wenn der Anteil noch viel höher liegen sollte, dürften am Ende genuine Stücke übrig bleiben. Diese müssen außerhalb der zur Streichung vorgeschlagenen 300 Jahre ihren Platz finden, wenn die Phantomzeitthese ihre Falsifizierung abwehren will. Mit Karolus Simplex ist nun ein Kandidat gefunden, der - ungeachtet der Pikiertheit unserer Mediävisten - Titel, Signum und Siegel nicht weniger kaiserlich führt bzw. ausführt als die zu streichenden kaiserlichen Karle. Was von denen als echtes Material erwiesen wird, ist also darauf zu überprüfen, ob es dem für beide Seiten der Kontroverse in den Büchern bleibenden Simplex ohne Schwierigkeit zugewiesen werden kann.
Dass die Idee zum Karlsmonogramm griechisch bzw. byzantinisch inspiriert ist [Martin 2000, 100 ff.], wirkt sehr plausibel. Ob die Anregungen erst aus dem 12. Jh. stammen [ebd., 111] oder früher anzusetzen sind, ist allerdings zu überlegen. Dadurch, dass die Münzen mit dem KRLS-Monogramm - dazu unten mehr - ganz nahe an das Jahr 600 herankommen und von diesem nicht mehr 200 Jahre entfernt sind, gelangen sie in eine enge evolutionäre Verbindung mit merowingischen Monogrammen, deren oströmisch-griechische Herkunft ja auch für die herrschende Lehre unstrittig ist. Man sieht dann, dass gerade mit dem kreuzbasierten Monogramm einfallsreich experimentiert wurde (Abb. 7-9).
Die Monogrammexperimente sind dabei nicht einmal auf den merowingischen Bereich beschränkt. Auch die christianisierten Ostgoten versuchen sich - wiederum im 6. Jh. und ebenfalls byzantinisch beeinflusst - an einer Verbindung von Kreuz und Namen (s. Abb. 10). Von dahin ist der Weg zum Karls-kreuz dann vielleicht gar nicht mehr so weit.
V. Die Münzen Karls des Einfältigen und der übrigen Karle
Konsens besteht zwischen herrschender Lehre und der These von 300 fiktiven frühmittelalterlichen Jahren, dass die als karolingische Münzen bezeichneten Fundstücke - Denare („Silberpfennige“) und Obolen - zwar nicht allzu zahlreich, zum guten Teil jedoch echt sind. Die ebenfalls existierenden und für beide Seiten unstrittigen Fälschungen befreien nicht von dem Problem, die genuinen Münzen korrekt einzuordnen. Die karolingischen Münzen waren aus Silber. Das Ingelheimer Goldstück aus Arles wird auch in der herrschenden Lehre sehr argwöhnisch betrachtet [Heinsohn 2001; Illig/Lelarge 2001].
Wenn zwischen 600 und 1200 nicht mehr 600, sondern nur noch 300 Jahre zur Verfügung stehen, müssen die Herrscher namhaft gemacht werden, denen die bisher ins 7.-10. Jh. verbrachten Münzen problemlos zugewiesen werden können. Sie müssen vor ca. 615 oder nach ca. 910 anzutreffen sein. Nun trägt keine die fränkischen Münzen eine Jahreszahl. Es gibt Namen, Titel, Bilder, Monogramme, Ortsbezeichnungen und die Zeichen von Münzstätten (vgl. die Komplettübersicht zu den Beschriftungen in Depeyrot [1998, 24-57]). Fast alle fränkischen Herrschernamen auf Münzen, die jetzt innerhalb der umstrittenen Zeit von insgesamt 300 Jahren in die 150 Jahre zwischen 750 und 900 platziert werden, gibt es - einfach oder mehrfach - auch in der späteren unstrittigen Periode ab Karolus Simplex (911) bis zum Jahr 1032, in dem die karolingischen Münztypen auslaufen [Depeyrot 1998, 56]. Es geht dabei um Namen wie Arnulf, Berengar, Karl/Karlmann, Lothar, Ludwig und Odo. Arnulf und Lothar (Chlotar) gibt es zusätzlich während der früheren und weiterhin unstrittigen Zeit der merowingischen Franken des 6. und frühen 7. Jhs. Für alle diese Namen ist zumindest hypothetisch ein Münzherr auch bei Verzicht auf 300 Jahre dingfest zu machen. Exemplarisch soll das weiter unten an Karolus-Münzen gezeigt werden.
Auch die herrschende Lehre räumt unumwunden ein, dass aufgrund der Unveränderlichkeit der
„Gepräge und der Namensgleichheit der karolingischen Herrscher (Karl, Ludwig) die Münzen häufig nur mit Schwierigkeiten eindeutig zuweisbar sind“ [Reinhard 1999, „Karolingische Münze“].
Allein von den Münzen her kann also niemand auf ein halbes Dutzend Karle oder entsprechend häufige andere Herrschernamen schließen. Wie eingangs gezeigt, ist die Menge und Chronologie der ins 7. bis 10. Jh. platzierten Herrscher für die Münzforscher ein vorgegebenes Dogma. Ihnen ist noch niemals die Aufgabe gestellt worden, ihre Funde auf eine kürzere Chronologie mit weniger Karlen zu verteilen. Es spricht mithin für sie, dass sie rein von den Münzen her Schwierigkeiten haben, überhaupt mehr als einen Karl oder Ludwig etc. zu erkennen.
Die Münzen der Merowingerzeit (konventionell von 480 bis 750 angesetzt) sehen bis auf die frühesten fränkischen Silberpfennige - dazu gleich mehr - deutlich anders aus als die karolingischen. Sie sind zum guten Teil Nachempfindungen römischer und byzantinischer Stücke und von daher auch chronologisch passabel zwischen 480 und 600 einzuordnen. Nach 620 jedoch wird die Zuordnung ungemein schwierig. Ob nämlich eine Hildebertus-Inschrift einem ersten, zweiten oder dritten König Childebert zugehört, kann von der Münze her nicht entschieden werden (zu den Schwierigkeiten vgl. sehr beredt Prou [1896, XXIX-LIII]; s. Abb. 12).
Die Münzen an sich können immer nur einen Childebert, Dagobert oder Sigibert etc. sicher belegen, weshalb man sich im Zweifelsfall für den jeweils ersten König dieses Namens zu entscheiden hätte und dann durchweg in der Zeit vor 620 landet. Aus diesem Grund ist jede Münzzuweisung an Merowingerkönige zwischen 620 und 750 mit Gegenargumenten konfrontiert. Die Fachforschung spricht für diese 130 Jahre vom „Zerfall der merowingischen Königsherrschaft“ [Kaiser 1993, 38], in der mysteriöserweise immer wieder dieselben Namen wie in der Zeit vor 620 mit eben denselben Konflikten zugange sind. Entsprechend können die Ereignisschilderungen als leicht veränderte Wiederverwendungen früherer Geschichten eingeordnet werden. Die These von den 300 fiktiven Jahren streicht diese Zeit eines 130 Jahre währenden Absturzes ersatzlos und kann alle ihr zugewiesenen Artefakte problemlos unstrittigen historischen Figuren aus der Zeit von 480 bis 620 zuordnen. (zur Merowinger-Genealogie s. Abb. 12). Entsprechend können die Ereignisschilderungen als leicht variierte Wiederverwendungen früherer Erzählungen ebenfalls in diesen Zeitraum eingeordnet werden.
V.1 Zu wem gehören die „ersten karolingischen“ Münzen Pippins des Kurzen?
Bekanntlich beginnt die karolingische Münzgeschichte nicht mit einem Karl, sondern mit einem Pippin, genannt der Kurze. Nach zehnjähriger Arbeit in der Funktion des Majordomus ab 741 soll er im Jahre 751 zum König avanciert sein. Auf 754/755 datiert die herrschende Lehre seine ersten Prägungen. Bis 754 sollen noch merowingische Münzen umlaufen, ohne allerdings chronologisch sicher zuordenbar zu sein. Die merowingischen Pfennige (etwa die Ebroin-Denare [Bleiber 1998, Taf. 14]; s. Abb. 11) ähneln bereits den ersten Pippins-pfennigen, fallen aber ein ganz klein wenig leichter aus (im Minimum um 0,07 Gramm). Ihr Gewicht lag bei maximal 1,37 Gramm, während die karolingischen bei 1,44 Gramm beginnen [Hürlimann 1966, 21].
Einen mächtigen Pippin gibt es in der unstrittigen Zeit nach Karolus Simplex bzw. ab dem 10. Jh. nicht mehr. Nach einem Münzherrn dieses Namens muss bei Wegfall von 300 Jahren also am Beginn des 7. Jhs. gesucht werden. Direkt innerhalb der 150 karolingischen Jahre der strittigen 300-Jahr-Zeit hat man - einschließlich des Kurzen - fünf Pippine untergebracht (s. Genealogie, Abb. 13), ohne dass die Münzforscher diese mit deutlich unterscheidbarem Münzmaterial versorgen könnten. Aber Pippinmünzen als solche gibt es, und sie indizieren, in Absetzung zu den Merowingerdenaren à la Ebroin - auch eine Reform des fränkischen Münzwesens. Es ist deshalb für die chronologische Neuzuordnung der Karolingermünzen unabdingbar, einen unstrittigen Pippin auszumachen, dem mit diesem Namen versehenen Münzen zugewiesen werden können. Oder anders formuliert: Es muss der unstrittige Pippin gefunden werden, dem die Numismatiker am Schreibtisch seine Münzen weggenommen haben, um sie Pippinen der strittigen Zeit zu übertragen. Gibt es einen Pippin aus der Zeit vor den bezweifelten 300 Jahren und ist diesem Manne eine Reform des Münzwesens zuzutrauen?
In Frage kommt dafür nur der mächtige Majordomus Pippin von Austrien. Seine genauen Lebensdaten sind nicht bekannt. Geboren im 6. Jh. wird sein Todesjahr sehr vage auf 640 gesetzt. Man nennt ihn meist Pippin den Älteren. Als Leiter der königlichen Domänen, also als Vermögensverwalter ist ein Majordomus geradezu dazu prädestiniert, auch für die Geldemission Sorge zu tragen. In der Literatur wird Pippin der Ältere nicht nur als Majordomus, sondern als Stammvater „des karolingischen Hauses“ [Schulze 1987, 81] geführt. Wir wissen nicht, ob er wirklich Regent gewesen ist. Aber er ist es, der Ordnung bringt in eine chaotische Zeit der „Schattenkönige“ [Ploetz 391].
Die jetzt auf den Erstmünzer von 750, Kurzpippin, bezogenen Überlieferungen legen ja ebenfalls dar, dass er vom Majordmus-Posten erfolgreich nach der Königswürde gegriffen hat. Nun seien von Pippin dem Älteren aus der Zeit um 600 Münzen niemals gefunden worden. Das darf durchaus erstaunen, denn von den wenigen merowingischen Silberpfennigen, die denen Kurzpippins schon ähneln, sind einige gerade mit dem Namen eines Majordomus versehen. Aus der Vermögensverwaltungsposition heraus kann das auch gar nicht überraschen. Bekannt ist hier vor allem der Majordomus Ebroin aus der Zeit eines Königs Theuderich von Neustrien. Er ist Konkurrent eines Majordomus Pippin von Austrien, der ihn am Ende besiegt und seine Machtposition - wohl einschließlich der des Münzherren - übernimmt. Ebroin und dieser Austrien-Pippin werden momentan in die zweite Hälfte des 7. Jhs. datiert. Wenn es bei Theuderich jedoch um den zweiten dieses Namens geht, dessen Tod auf 612 datiert wird, hätte man in den Ebroin-Denaren eine sehr passable Vorstufe für Denare eines Pippin von Austrien, der Ebroin besiegte und dann Pippin der Ältere unserer Lehrbücher wäre.
Wenn also die ersten Karolinger-Denare, die jetzt in die Mitte des 8. Jhs. zu Pippin dem Jüngeren (Kurzpippin) gesetzt werden, an Austriens Pippin den Älteren fallen, wäre das Problem der Zuordnung der Pippinsmünzen, die ja nicht in die Zeit nach Karolus Simplex bzw. ab dem konventionellen 10. Jh. fallen können, einer Lösung zugeführt. Ebroin von Neustrien wäre gegen 600 der erste Münzreformer der Franken. Durch Schaffung des Denars (Silberpfennigs; s. Abb. 11) macht er sich von römischen und byzantinischen Vorbildern (Solidus etc.) frei. Pippin von Austrien allerdings kann ihn sehr bald besiegen. Er wird dann faktischer Herr eines vereinigten Frankenreiches. Ist er lediglich Regent geblieben oder auch selbst König geworden? Wenn ihm die Pippinsmünzen gehören, dann ist die in ihnen enthaltene Information auch auf ihn zu beziehen. Das RF für Rex Francorum auf der zweiten Silberpfennigprägung der Franken - auf den ersten „karolingischen“ Münzen also nach denjenigen Ebroins - würde belegen, dass der Ur-Pippin tatsächlich König wurde. Und dass ein Majordomus namens Pippin König wird, ist ja auch für die herrschende Lehre unstrittig. Sie weist die entsprechenden Auskünfte lediglich einem 750er-Pippin zu, den die Phantomzeitthese ersatzlos streicht.
V.2 „Stratigraphie“ und Menge karolingischer Münzen
Die Stratigraphie steht in der Überschrift in Anführungszeichen, weil das Sortieren der karolingischen Münzen während des 18. und 19. Jhs. nur selten nach archäologischen Gesichtspunkten erfolgte, sondern meist am Schreibtisch durchgeführt wurde. Mittlerweile gibt es auch stratigraphisch gesicherte Fundumstände für karolingische Münzen (besonders gut bei Haertle [1997, passim] verzeichnet). Die aber sind ohne Einfluss auf die überkommene Platzierung der Horte und Einzelstücke über die längst vorgegebene Chronologie geblieben. Eher ist es so, dass ein Fund, der von seinen Umständen her in das 10. Jh. gehört, triumphierend als Beweis für eine frühere Zeit vorgewiesen wird, weil der entsprechende Münztypus bereits an den Schreibtischen des 19. Jhs. in das 8./9. Jh. der konventionellen Chronologie verbracht worden ist.
So ist kürzlich (gezeigt in Simmering [1997]) gegen die These vom bloß fiktiven Großkarl mit dem Bruchstück eines in Paderborn ausgegrabenen Carolus-Denars (Silberpfennigs) aus Melle argumentiert worden. Die tüchtigen Ausgräber haben gar nicht erst in Erwägung gezogen, dass dieses Fragment zu Karolus Simplex gehören könnte, obwohl für ihn 228 Melle-Denare - sowie 922 Melle-Obolen - wohl belegt sind [Depeyrot 1998, 200 f.] und nicht anders aussehen als solche, die anderen Karlen zugewiesen werden. Es gibt für Simplex Denare mit dem Kaisermonogramm KRLS und Gratia-Dei-Rex-Rück-seiten. Es gibt Carlus-Rex-Denare mit Kreuz und es gibt Verschlagungen mit HRLS statt KRLS [Haertle 1997, 875, 890, 901, 907-911]. Die Paderborner wollten erst einmal nur gegen Illig die Oberhand behalten. In der Not, Großkarl beweisen zu müssen, konnten sie nur noch das Pfennigbruchstück heranziehen, weil sie mehr Karlinisches ohnehin nicht hatten. Im Eifer des Gefechtes glaubten sie, wissenschaftliche Standards einmal beiseite lassen, also über die Simplex-Denare schweigen zu dürfen. Später jedoch, das muss man ihnen zugute halten, wird der Paderborner Viertelpfennig - gerade wegen der immer noch nicht gesicherten Stratigraphie für die Zeit vor 900 - sehr vage und kurz abgehandelt [Mecke 1999, 176 ff.; s.a. Illig 1999b, 409, 415 f.]. Jeder triumphale Gestus wird jetzt vermieden. Aus Melle/Poitou allein stammen 8.922 [Depeyrot 1998, 196-201] der 33.677 karolingischen Münzen. Die größte Position umfasst 5.754 CARLVS-REX-FR-Denare, von denen niemand sagen kann, welchem Karl sie zuzuordnen sind, weshalb sie momentan als Großkarl „oder“ [Depeyrot 1998, 197] Kahlkarl geführt werden. Simplex-Münzen können wiederum nur schwer von solchen Kahlkarls und dessen Stücke kaum von denen Großkarls unterschieden werden. Um mit einem Melle-Carolus-Denar als stratigraphischem Beweismittel für Großkarl aufzutreten, bedarf es also einer profunden Unkenntnis selbst der herrschenden Numismatik.
Die Zahl der karolingischen Münzen, die in die Zeit von 750 - 900 und damit in die momentan zur Streichung vorgesehene Periode gesetzt werden, fällt - Stand 1998 - mit 13.723 Stücken aus 75 Funden [Depeyrot 1998, 84] relativ bescheiden aus. So gibt es etwa aus der salischen Zeit (1024-1125) in einem einzigen Fund (Vichmjaz am Ladogasee) mehr als 12.000 deutsche Münzen [Warwick 1992, 187 f; s.a. Illig 1998, 164]. Die Zahl der karolingischen Münzen, die in die nicht bestrittene Zeit von &Mac197;900-1000 gesetzt werden, liegt - wiederum Stand 1998 - bei 20.228 Münzen aus 36 Funden [Depeyrot 1998, 84]. Die Gesamtsumme beträgt 33.677 Stück.
Bei der Aufteilung der Münzen in kaiserlich/königliche und Adelsprägungen wird umgehend deutlich, wie die Schreibtisch-Stratigraphen ihre Zuteilungen vorgenommen haben. In das Vakuum der archäologielosen Zeit von 750-900 hat man sich ein absolut totales Kaiser-/Königtum konstruiert, das über gewaltige Territorien hinweg mit unbändiger Macht dafür gesorgt habe, dass es nur einen einzigen Münzherren gab - den Kaiser/König eben. Dass bereits zu Beginn des 7. Jhs. die Privilegierung des fränkischen Adels - also die oben behandelte „Germanisierung“ der römischen Verwaltungsbürokratie - erfolgt ist und von daher auch Adelsprägungen zu erwarten sind, muss dabei eisern übergangen werden. Man hat fast sämtliche Adelsmünzen in die zweite Hälfte des 10. Jhs. verbracht, obwohl die herrschende Lehre den Adel bereits am Be-ginn des 10. Jhs. - zweite Germanisierung - groß werden lässt. Andererseits soll das Kaiser-/Königtum als Münzherr zwischenzeitlich von einer Position totaler Macht (750-900) in totale Machtlosigkeit (950-975) abgestürzt sein.
In den übrigen Perioden des 10. Jhs., in der doch das Bauen und die Wirtschaftstätigkeit unstrittig archäologisch nachweisbar werden, bleibt die entsprechend zu erwartende Vervielfachung der Kaiser/Königsmünzen mysteriöserweise aus. Im Gegenteil, von 13.717 Kaiser/Königs-Münzen des 9. Jhs. wird sogar ein Rückgang auf 10.731 solcher Münzen im 10. Jh. verzeichnet.
Man hat also fast alle fränkischen Adelsmünzen für die zweite Hälfte des 10. Jhs. verbraucht, um da - wo alle auf viele Münzen rechnen - überhaupt nennenswerte Münzfunde vorweisen zu können. Und man hat den Löwenanteil der Kaiser-/Königsmünzen - wie auch der Kaiser-/Königsurkunden - für das 9. Jh. verbraucht, weil man dort neben den fehlenden Bauschichten nicht auch noch die fehlenden Münzen - bzw. Urkunden - eingestehen wollte.
Natürlich ist es nicht in dieser plumpen Machart verlaufen. Die armen Münzspezialisten hatten Vorgaben zu erfüllen. Die Mediävisten und die Chronologen haben ihnen einfach keine Erlaubnis erteilt, vernünftig vorzugehen. Sie haben eisern an den langen karolingischen Herrscherlisten festgehalten und für diese Münzen eingefordert. Generationen von Numismatikern haben dann damit Arbeit gefunden, über die Zuweisung einer Ludwig-Münze an das 9. oder das 10. Jh. zu streiten. Dieser Beschäftigung werden etliche von ihnen auch in Zukunft nicht missen wollen.
Wenn man aus der Absurditätsfalle der Münzverteilung heraus will, muss man die Bau- und Wirtschaftsschichten wieder mit den Münzfunden zusammenführen, also ca. 300 Phantomjahren entsagen. Das wird der Mediävistik schwer fallen, aber die Wissenschaft dürfte diesen Weg nicht für immer auf die lange Bank schieben können. Das Ergebnis sieht folgendermaßen aus:
Evidenz-Stratigraphie und Chronologie der fränkischen Münzen
(Datierungen tentativ)
910-1000 Sämtliche karolingischen Münzfunde, die mit 33.877 Stück den
zu erwartenden bescheidenen Beginn der Bau- und Wirtschafts-
tätigkeit belegen, gehören in das 10. Jh. [so schon Illig 1998, 167].
ca.610 = ca.910 Nach Sieg über Ebroin erste Denare Pippins. Die unmit-
telbar anschließenden Karls-Denare sind solche von Karolus
Simplex. 300 Phantomjahre entfallen.
600-610 Einführung des fränkischen Silberpfennigs/Denars noch unter
Pippins Gegenspieler Ebroin
480-600 Merowingische Münzvielfalt
——————————————————————————————
V.3 C/Karolus-Münzen zu Karolus Simp
lex!
Wenn fränkische Münzen - wie auch die Urkunden - mit den fränkisch urbanen Schichten aus der Zeit nach 900 zusammengebracht werden, müssen ab 900 reale Herrscher benannt werden, zu denen die ja real bleibenden Münzen - wie auch die ungefälschten Urkunden - gehören. Das soll hier exemplarisch an den wichtigsten, also den C/Karolus-Münzen versucht werden, unter denen sich zahlreiche Kaiserprägungen befinden.
Die Schwierigkeiten der Münzforscher, die einzelnen Stücke bestimmten Karlen zuzuordnen, war bereits am KRLS-Monogamm deutlich geworden, das Großkarl, Kahlkarl und Karolus Simplex teilen. Sie sollen hier an den Münzbeschriftungen weiter illuminiert werden
Man sieht umgehend die Identitäten oder extremen Ähnlichkeiten der C/KAROLVS-Bezeichnungen. Differenzen zwischen den Münzstätten mögen hier das meiste erklären. Es gibt auch aus ein und derselben Münzstätte unterschiedliche Schreibweisen. Die Numismatiker haben jedoch einen Teil der Namens- und Titelabweichungen nicht so sehr auf unterschiedliche Münz-stätten und unterschiedliche Prägungen bezogen, sondern als materiellen Beweis für die Existenz zusätzlicher Herrscher ausgedeutet.
Die auffälligste Differenz findet sich bei den IMPerator AUGustus-Bezeichnungen. Die fehlen für Karolus Simplex gänzlich. Heißt das nun, dass er keine IMP AVG-Münzen hatte, weil er eben kein Kaiser war? Es kann auch heißen, dass man Simplexens IMP-AUG-Münzen den fiktiven Karlen zugeschlagen hat, von denen aus Chronologie und Regentenliste jeder ja schon immer ganz genau wusste, wie sehr sie Kaiser waren. Waren also IMP AVG-Münzen - es sind sehr wenige - zuzuordnen, ist Simplex von vornherein ausgeschlossen worden. Es ist diese Willkür bei der Münzzuteilung, mit der Numismatiker und Historiker Simplex erst als Schwindler hinzustellen vermögen. Ja, er führt ein Kaisersiegel. Ja, er führt das kaiserliche KRLS-Monogramm auf Münzen und er signiert damit auch seine Urkunden. Ja, er ist nach Auskunft seiner Münzen ganz wie Großkarl, dem - anders als Pippin [Völckers 1965, Taf. N; Depeyrot 1998, Kat. 5] - entsprechende Stücke übrigens fehlen, ein Verteidiger der Juden. Die Textüberlieferung zu Juden ging an Groß-, die David-/Salomo-Münze an Simplex-Karl.
Ja, Simplex regiert von 911-921 ein kaiserlich anmutendes vereinigtes Frankenreich. Ja, er prägt Münzen von Köln und Bonn bis nach Nordostspanien (Katalonien). Aber - folgt dann - wo sind denn bitte sehr seine Kaisermünzen? Dass die so fragenden Numismatiker selbst ihm diese Stücke am Schreibtisch weggenommen und ihn so zum Hallodri unter den Frankenherrschern gemacht haben könnten, kommt diesen Gelehrten nicht in den Sinn.
Mit denjenigen Münzen, die man Simplex gelassen hat, ist man aber auch wieder nicht zufrieden. Einmal mehr wird er beim Nachäffen erwischt, weil seine Stücke entsetzlich unoriginell, also nichts als „eine Rückkehr zu einer sehr traditionellen Darstellung“ sind. Zu „alten Emissionen“ - vor allem Kahlkarls - liefern lediglich „Gewichtsabnahmen“ Unterscheidungsgründe [alles Depeyrot 1998, 49], für deren zuverlässige Feststellung wegen der Kargheit des Materials dann aber doch nichts Verbindliches ausgesagt werden kann.
Weil man die kaiserlichen Münzen von Simplex-Karl- wie auch die meisten seiner Urkunden - für Phantomkaiser aus der bautenlosen Zeit verbraucht hat, muß Simplex wie ein Imitator, ja nichtswürdiger Hochstapler aussehen. Dass er eine Welt von Zeitgenossen mit einer bloßen Kaiserposse hereinzulegen vermochte, können sich die Mediävisten viel leichter vorstellen als ein eigenes Irre-geführtsein.
Die bisherige Thesenentwicklung besagt nicht zwingend, dass sämtliche Karl/Karlmann-Münzen der Frankenzeit einem bis 911 königlichen und dann kaiserlichen Simplex zufallen müssen. Es könnten auch Adels- oder Majordomus-Prägungen für nicht königliche Herren namens Karl/Karlmann o.ä. dabei sein. Dies wird hier ausdrücklich weder behauptet noch ausgeschlossen. Ausgeschlossen werden lediglich mehrere Karls-Kaiser der Frankenzeit. Nur für einen gibt es Platz im real existierenden 10. Jh., während es in der Phantomzeit logischerweise nicht einen einzigen geben kann.
An zwei ausgewählten Münzvergleichen zwischen Simplex- und anderen Karlen sei zum Abschluss das Zuteilungsverfahren der Numismatiker an Einzelbeispielen illustriert. Unterschiedliche Prägungsorte bzw. Stempelschneider für denselben Münztypus führen zur Kreation unterschiedlicher Kaiser. Wir beginnen mit Varianten desselben Münztypus, die aufgrund erwartbarer Abweichungen verschiedener Stempelschneider einmal an Simplex und einmal an Großkarl gegangen sind:
VI. Fazit
Karolus Simplex war keineswegs der schwächliche und verächtliche Betreiber einer „karolingischen Restauration“ [Ehlers 1985, 25]. Er litt auch nicht an einem „übersteigerte[n] Anspruch auf Herrschaft über alle Franken“ [Schneidmüller 1991, 970]. Aber in der Tat wirkt er kaiserlich, großmächtig und karolingisch. Da nun nichts dafür spricht, dass einer Imperator ist, zugleich aber in allem und jedem immer nur imitiert oder fälscht, ohne dass die direkten Zeitgenossen das merken, muss Simplex alle karolingischen Großleistungen zuerst erbracht haben. Er konnte die Vor-Karle nicht erwähnen, weil sie erst nach seinem Ableben erschaffen worden sind. Er konnte nicht etwas restaurieren oder nachahmen, das es vor ihm einfach nicht gegeben hat. Und weil es diese Dinge nicht gegeben hat, können die Archäologen für 300 direkt vor Simplex gesetzte Jahre auch keine Bauschichten finden. Er selbst also ist es, der - realhistorisch kurz nach 600 - aus den merowingischen Abgründen heraus ein karolingisches Großreich geschaffen hat. Nach einigen merowingischen rex Francorum-Königen ist allein Simplex - und eben nur nach seinem Namen Karl benennbar - karolingischer Herrscher über alle Franken mit diesem RF-Titel gewesen.
Die Münzen und sonstigen Artefakte für das karolingische Imperium sind also nicht deshalb so verblüffend rar, weil ein tückisches Geschick den mediävistischen Archäologen immer und überall von neuem böse Streiche spielt, so dass sie gerade für diese Periode kaum etwas finden können. Die Funde müssen so selten sein, weil das Imperium nicht einhundertsiebzig Jahre (von 751-921), sondern nur ein Jahrzehnt existiert hat. Das wird konventionell zwischen 911 und 921 datiert, was realhistorisch eben zehn durchaus imponierenden Jahren zu Beginn des 7. Jhs. entspricht. Die Merowinger wiederum erleben keinen fast 150 Jahre dauernden Absturz (von 600 bis 750) mit immer neuen Variationen derselben Verschwörungen, sondern erleben den Zenit ihrer Macht kurz nach 600. Und sehr bald danach folgt der in keiner Weise simple Karolus, dem Pippin der Ältere (Urmuster Pippins des Jüngeren/Kurzen) das Feld bereitet sowie - per Münzreform - auch die Finanzen ordnet. Es ist dieser Franke, in dem die europäische Geschichte einen wirklich großen Karl hat, wenn auch keinen Überkaiser dieses Namens. Einen solchen gab es nie. Wenn die Mediävistik einmal zu den Sachen findet, dann wird sie Simplex rehabilitieren und guten Gewissens in neuer Kennzeichnung als Karl den Großen in die Bücher nehmen.
Es muss kaum betont werden, dass all diese Befunde und Schlussfolgerungen schwerlich dazu taugen, Illigs These von 300 frühmittelalterlichen Phantomjahren zu erschüttern.
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