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Prof. Fried zur Mittelalterdebatte:

Fried als Vorkämpfer für eine neue historische Sicht ?

Doch wo Gefahr droht, da wächst das Rettende auch. Fried hat 1996 an einer weiteren programmatischen Schrift mitgearbeitet, bei der es um nichts weniger als um "Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung am Ende des 20. Jahrhunderts" geht. Und dort hören wir nichts mehr von der unzulässigen "Karlslüge" und von dräuenden Katastrophen, sondern ganz andere Töne. Zunächst gibt Prof. Fried selbst einen weiteren Hinweis für das von mir aufgedeckte 'Pilgerschrittverfahren', bei dem im 10./11. Jh. noch einmal entdeckt wird, was im 8./9. Jh. schon selbstverständlich war:

"Herbert Grundmann, der als einer der führenden Repräsentanten dieser Richtung [Kenntnisnahme von Texten, die zuvor ein eher randseitiges Dasein fristeten] genannt werden muß, verwies unter anderem auf die Quedlinburger Annalen als Exempel für einen generellen Trend im ottonischen Reiche, daß 'deutsche Klöster gleichsam noch einmal von vorn mit der Aufzeichnung sporadischer Notizen' begonnen und bald 'mehr und mehr Zeitgeschichte' aufgenommen hätten" [Fried 1996c, 51].

Fried bringt hier einen Fund, der sich nahtlos in mein Mittelalterbuch einfügen würde. Das erinnert daran, daß Fried schon in seinem 'Garde'Artikel mehrere Hintertürchen eingebaut hat, die einen Fluchtweg hin zu einem ganz neuen Geschichtsbild öffnen könnten.

"Ich muß daran erinnern, daß gegenwärtig mit großem wissenschaftlichen Aufwand eine These diskutiert wird, die das Gros der bislang für original überliefert, also unzweifelhaft echt gehaltenen karolingischen, ottonischen und salischen Königsurkunden zu Fälschungen der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts erklärt. Unsinn? Irrtum? Oder der erste Schritt zu grundstürzendem Umdenken?" [Fried 1996b. 312]

In der Historischen Zeitschrift sind nun auch die Quellen angeführt - und sie lassen staunen. Die These stammt von Hans Constantin Faussner, der sie 1986 zweimal vertreten hat. Diskutiert worden ist sie aber in den letzten zehn Jahren offenbar nirgends, sonst hätte der exakte Fried hier eine Zitation angefügt, wie er es auf derselben Seite getan hat, als er über den - uns wohlbekannten - 'Fall Benedikt' spricht, aber hier nach Francis Clark's Thesen einen Band mit neuen Forschungsantworten anfügt [Fried 1996b, 312f; vgl. Illig 1994]. Dasselbe Schweigen folgt einer weiteren Frage:

"Könnten nicht nur diese [Königs-]Urkunden, sondern überhaupt die fraglichen Chroniken und Artefakte Fäden im Gespinst von 'Karlslügen' sein? Zumal die berühmtesten aller Annalen, die karolingischen 'Reichsannalen', die - auch das eine aktuelle wissenschaftliche These - eine am Hofe Karls des Großen verfälschte Geschichte notierten und die Historiker bis heute in heftige Kathederkämpfe treibt?" [Fried 1996b, 312]

Diese "aktuelle These" von Matthias Becher stammt von 1993, war also damals erst drei Jahre alt, weswegen vielleicht noch keine Diskussion zu gewärtigen ist. Gleichwohl: Wird hier nicht prophylaktisch Material bereitgestellt, um die Priorität im Dorf zu behalten, sprich dem unliebsamen Herausforderer zumindest den ersten Schritt zu seiner Idee abzusprechen? Das passende Motto hätte Egon Friedell bereits 1908 seinem Dichterfreund Peter Altenberg in den Mund gelegt: "Es ist der äußerste Dreck und außerdem ist es von A bis Z von mir" [Friedell 1986, 260].

Patrick J. Geary findet im selben Perspektiven-Buch zu einem ganz neuen Blick auf die Fiktionalität von Quellen, wenn er die Abgrenzung der "'neuen amerikanischen Schule der Sozialgeschichte"' vornimmt:

"Diese [ihre] Arbeiten sind zu einem großen Teil der französischen sozialgeschichtlichen Forschung verpflichtet, unterscheiden sich davon aber sowohl durch die Anwendung anthropologischer Methoden auf die Untersuchung mittelalterlicher Kulturen und Gesellschaften, als auch dadurch, daß sie bestrebt sind, historische Quellen - archivalische ebenso wie narrative - als 'literarisches' Konstrukt, als verschriftlichte Fiktion anzusehen, durch die ein Weltbild geschaffen werden soll, das mit der spezifischen Wirklichkeit nicht übereinstimmt, die aber diese Wirklichkeit so sehr vorspiegeln, daß sie sie geradezu herbeirufen und existent erscheinen lassen. Diese Art von Geschichtsbetrachtung ist keine politische, sondern vielmehr, Foucault folgend, eine, die mehr an den (dem sozialen Beziehungsgeflecht innewohnenden) Machtfaktoren interessiert ist als an den formalen Institutionen der Herrschaft." [Geary 1996, 94]

Hier wird den heißgeliebten Schriftquellen bereits mit gehöriger Skepsis entgegengetreten, die sich vermutlich in nichts von der meinen unterscheidet. Und Fried steht Geary plötzlich in nichts nach:

"Das Thema 'Fiktionalität beim Umgang mittelalterlicher Geschichtsschreiber mit historischen Fakten' wirkt noch heute auf manch einen Historiker vom Fach wie ein rotes Tuch: man raube ihm den Widukind von Corvey" [Fried 1996c, 54].

Und dann zeichnet Fried eine ganz große Perspektive über fast zwei Jahrhunderte Geschichtswissenschaft und ihre fünf Entwicklungsstufen:

1) Handschriftenstudien und kritische Editionen (19. und frühes 20. Jh.);
2) Kenntnisnahme von bislang randseitigen Texten (ab 1920);
3) Entwicklung der funktionsgeschichtlichen Quellenanalyse;
4) Beachtung von Dingen, "die auch mit Hilfe der geistesgeschichtlichen
und funktionalistischen Brille nicht zu sehen waren". Unter vielen
massenhaft auftretenden Phänomenen nennt Fried sogar Scherben und
Pollendiagramme;

5) Der wissenssoziologische Zugriff der jüngsten Zeit, der sogar Bild-
zeugnisse und Kunstwerke einbezieht.

Daraus gewinnt Fried eine ganz neue Innenansicht des alten, wohlvertrauten und gutbehüteten Elfenbeinturmes, der plötzlich nicht nur ein verschlossenes Portal, sondern sogar offene Fenster aufweist:

"Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Fünf höchst divergierende Zugangsweisen, die ich als Stufen wachsender Fähigkeit zur Analyse komplexer Sachverhalte, als unterschiedliche Fenster eines Aussichtsturmes begreife, folgten einander. Isoliert genutzt, gewährt keines von ihnen einen annähernden Uberblick über das Ganze der Vergangenheitslandschaft; starr lenkt es den Blick in eine Richtung, hält ihn auf ein Segment und eine Horizonthöhe fixiert. Gemeinsam und abwechselnd einbezogen fordern sie hohe Flexibilität, immer neue Orientierung, belohnen aber die Mühe mit Horizonterweiterung. Methodologische Verbindungstreppen zwischen den Fenstern erleichtern den Wechsel vom einen zum anderen und erlauben, das jeweils Wahrgenomme[ne] mit den Wahrnehmungen aus allen anderen zu vereinen. Zugegeben, nicht jeder Historiker bewegt sich mit gleichem Geschick über die Stiegen, der eine oder andere stolpert wohl auch, irritiert von der Fülle und Komplexität der Informationen, die er nun vor sich hat, gerät ob dem Hin und Her gar außer Atem und richtet sich erschöpft oder behaglich hinter einem einzigen Fensterchen ein, zufrieden mit der kleinen Welt, die er von dort erkennt. [ ] Mißverständnisse, aber auch Fehldeutungen sind unvermeidlich. " ] Ist vielleicht, eine schreckliche Vision, die ganze und, gestehen wir es uns ruhig ein, seit den 'Regesta Imperii' für abgeschlossen gehaltene Arbeit der Quellensichtung, weil nur aus einem Fenster gewonnen, von vorne zu beginnen, mit Konsequenzen für das Geschichtsbild, die noch kaum auszumalen sind?~ [Fried 1996c, 58f]

Fried wagt hier den Blick auf die versteinernde Medusa und tritt perseusgleich an die Spitze jener unerschrockener Gelehrten, die bereit sind, auch das ärgste zu ertragen, nämlich das völlige Umkrempeln ihres Geschichtsbildes. Das ist mutig und ungemein zu begrüßen, hatte er doch noch vor kurzem die Parole ausgegeben: "Die Garde stirbt und ergibt sich nicht" [Fried Iss6al.

Hält man aber Frieds zeitlich sich überlappende Veröffentlichungen nebeneinander, zeigt sich eine regelrechte Doppelstrategie. Auf der einen Seite zeigt er meinen geschichtskritischen Ansatz in haselnußbrauner und feuersbrunstroter Beleuchtung, um ihn so weit wie nur möglich auszugrenzen. Auf der anderen Seite setzt er sich an die Spitze des Fortschritts, weil er - scheinbar als erster und einziger - den Gedanken erträgt, daß das Geschichtsbild ganz neu gezeichnet werden muß. Es verrät wendige Entschlossenheit, mit einer einzigen Fußbewegung denjenigen wegzustoßen, der den wirklichen Aufbruch gewagt hat, und zugleich an die Spitze dieser Aufbruchsbewegung zu treten. Hier wäre sogar eine moralische Bewertung statthaft, da es nicht um die Essenz eines Theoriegebäudes, sondern um nur zu menschliches Verhalten geht.

Unverständlich bleibt allerdings, warum Fried nicht gleich noch ein paar weitere Fenster öffnet. Das liegt wohl daran, daß sein simultaner Blick durch fünf Fenster hindurch noch immer zu 95 % auf Urkunden fällt. Da bin ich weiterhin voraus. Bei meinem Vortrag an der Univ.-GH Paderborn [lllig ~996a; vgl. 1996b, 332f] sprach ich über dieselbe Problematik und führte als meine 'Fenster' unter anderem an:

"Architekturbefund contra Architekturgeschichte",
"Architekturbefund contra Quellen",
"Archäologie contra Quellen",
"Bereitschaft, Axiome als solche zu erkennen",

"Zuziehung anderer Wissenschaftsdisziplinen".

Erst wenn Fried und die Seinen endlich den verkannten 'Hilfsdisziplinen' den ihnen zustehenden Platz einräumen, wird sich der Aussichtsturm vor neuen Erkenntnissen kaum mehr retten können. Ob Elfenbeinturm oder Quellenkuckucksheim - solange sich die Insassen gegen jeden Abgleich zwischen Pergament und steinharter Realität sperren, solange werden sie nur entsetzt und verstandnislos beobachten können, wie ein scheinbar festgehugtes Werk zu Staub zerfällt.

Literatur

Borgolte, Michael (1976): Der Gesandtenaustausch der Karolinger mit den Abassiden und mit dem Patriarchen von Jerusalem; München (Münchner Beiträge zur Mediävistik)

Fried, Johannes (1996a): 'tDie Garde stirbt und ergibt sich nicht. Wissenschaft schafft die Welten, die sie erforscht: Das Beispiel der Geschichte'; in FAZ vom 3.4. 1996

- (1996b): "Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichtett; in Historische Zeitschrift CCLXIII (2) 291-316

- (1996c): "Vom Zerfall der Geschichte zur Wiedervereinigung. Der Wandel der
Interpretationsmuster"; in Otto Gerhard Oexle (Hg. 1996): Stand und Perspektive...

 

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