von Heribert Illig und Gerhard Anwander
Die These, das frühe Mittelalter sei zum Teil eine Erfindung des späteren Mittelalters, rund 300 Jahre seien niemals Realität gewesen, ist nicht aus Sensationsgier heraus aufgestellt worden. Sie ist vielmehr die Antwort auf die unerhörte Fundarmut, die bislang das Frühmittelalter auszeichnet. Wer sich nicht von den vielleicht hundert Preziosen und Zimelien blenden lässt – von der Aachener Pfalzkirche über die Reichenau zum Lorscher Evangeliar, zum Codex Aureus von Regensburg und zu den wenigen Elfenbeinarbeiten der Hofschule Karls – , der muss feststellen, dass die Zeit zwischen 500 und 1000 viel zu wenige Spuren für eine aufkeimende Kultur, für eine exquisite karolingische Renaissance, aber auch für das Alltagsleben jener Zeit hinterlassen hat. Wo wäre ein Museum in Europa, das auch nur annähernd so viele Funde für das frühe Mittelalter wie für die römische Zeit Germaniens zeigen könnte? Die rund 400 Jahre Römerherrschaft haben Funde in einem Ausmaß hinterlassen, zu dem die fränkisch-alamannisch-bajuwarisch-sächsischen Funde in einer Relation von vielleicht 1 : 1000 stehen.
Es fehlt ja an allem: Die berichteten Pfalzen haben sich nur in minimalem Umfang erhalten, karolingische Klöster überhaupt nicht, Kirchen nur sehr wenige. Wo sind die Ansiedlungen? Viel zu wenige Siedlungen werden entdeckt. Die eilige Antwort, selbst die Pfalzen müsse man sich aus leicht verfallendem Fachwerkbau vorstellen, der nun einmal nicht nachweisbar sei, ist – mit Verlaub – kindisch, nachdem die Vorgeschichtler schon seit mehr als 100 Jahren steinzeitliche Hütten nachweisen können. Wäre karolingisches Holz wirklich besonders schnell verfault?
Weil das keine Antwort sein kann, musste eine bessere Antwort gefunden werden. Und sie liegt seit zehn Jahren in Gestalt der Phantomzeitthese vor, die nach einigen Jahren der Diskussion nunmehr von den Historikern einer „damnatio memoriae“ unterworfen worden ist. Bislang war solche Verdammung Potentaten wie Tuthmosis III. oder Stalin vorbehalten gewesen – nunmehr gefallen sich unter Wortführung von Prof. Michael Borgolte oder Rudolf Schieffer die Mediävisten in der Tyrannengeste.
Da es uns nicht um sich überschätzende Beamte (sprich: Professoren) geht, haben wir in aller Ausführlichkeit gezeigt, dass die europäische Fundarmut, genauer Fundleere im Frühmittelalter keine Erfindung ist, sondern sich präzise nachweisen lässt. Zu diesem Zweck haben wir uns den Freistaat Bayern in seinen heutigen Grenzen gewählt, also ein Areal von rund 70.000 qkm. Dieses Areal ist besonders aussageträchtig:
- denn es wird durch den Limes in etwa halbiert. Seine nördliche Hälfte war nie römisch, während die Südhälfte römisches Staatsgebiet war und damit auch das Christentum als Reichsreligion hatte. Obendrein gehörte es unter Theoderich formal zum oströmischen Bereich, hatte also auch Kontakte zur stärksten Macht Europas.
- Hier gab es bis 778 ein Herzogsgeschlecht, das mit den Karolingern verschwägert und mit den Langobarden verwandt gewesen sein soll, also gut innerhalb der europäischen Geschichte verankert scheint.
- Hier hat es neben römischen und fränkischen Einflüssen viele weitere Einflüsse gegeben, die den bayerischen Schmelztiegel auszeichnen: also thüringische, alamannische, böhmische, generell slawische, awarische, ungarische und spätromanische (Walchen) Elemente.
Damit ist gesichert, dass Bayern zumindest Mitteleuropa, wenn nicht ganz Europa beispielhaft vertreten kann (Ähnlichkeiten zu irgendwelchen aktuellen politischen Geschehnissen sind rein zufällig).
Unsere Arbeit sollte nun die schriftliche Überlieferung mit dem archäologischen Befund fürs frühe Mittelalter konfrontieren.
Urkundliche Nennungen gegen Bodenfunde
Dazu mussten zunächst alle schriftlich genannten Orte jener Zeit erfasst werden. Das erwies sich viel schwieriger als erwartet. Denn die Urkundenspezialisten schwören zwar jeden Eid auf die von ihnen verwesten Urkunden, halten es jedoch nicht für nötig, eine entsprechende Liste aufzustellen. So stammt die letzte Arbeit von 1957 und bezieht sich nicht aufs heutige Bayern, sondern auf die Grenzen von 778, als etwa Südtirol und Teile Österreichs zu Bayern gehörten, nicht aber Schwaben oder Franken. Das Fehlen einer solchen Liste demonstriert einmal mehr die Hilflosigkeit gegenüber den Urkunden, weil niemand weiß, ob eine ortsnennende Urkunde seit der letzten Publikation als Fälschung entlarvt worden ist oder ob der Ortsname zu Recht mit einer bestimmten Ortschaft verbunden wird. Resultat: Man kann auf die Urkunden nicht bauen, sondern nur an sie glauben.
Wir haben unsere Suche bei der schönen Zahl 2.200 beendet. Damit ist auf jeden Fall dokumentiert, dass das einstige Bayern ein durchaus gut besiedeltes Land war, keineswegs ein ‚Urwald‘ mit einigen klösterlichen Rodungsinseln.
Zum anderen suchten wir die Grabungsergebnisse und architekturhistorischen Erwägungen der letzten Jahrzehnte zusammen. Auch hier gibt es keinen kompakten Führer, sondern nur eine Vielzahl von Publikationen, die jede für sich kaum einen Überblick schaffen kann.
Als erstes Ergebnis ist festzuhalten, dass den 2.200 Schriftnennungen nur 88 archäologische Befunde entsprechen. Gemeint sind damit Siedlungsreste, Reste von Holz- und Steinkirchen, nicht zuletzt Flechtwerksteine (die zahlreichen Erdwerke und Reihengräberfelder sind separat untersucht worden, weil ihre Entstehungszeit einigermaßen willkürlich fixiert worden ist).
Selbstverständlich gibt es andererseits Befunde, die mit keiner Urkundennennung korrespondieren. Es sind sogar mehr, als der Urkundenlehre gut tut, nämlich59. Die Zahl liegt in derselben Größenordnung wie die von Orten mit Urkundennennung.
- In der beigefügten Tabelle sind alle diese Orte aufgeführt, insgesamt 2.366.
Die allermeisten Orte führen in der Erläuterung das folgende Sigel: <> O <>, das eine Urkundennennung ohne archäologische Bestätigung signalisiert. - Orte mit Urkundennennung und archäologischem Befund erkennt man daran, dass in der zweiten Spalte eine Jahreszahl und in der dritten Spalte („ÜR“) eine gefettete Jahreszahl steht. Die Erläuterungen bringen dann einen Kurzhinweis und den Seitenverweis auf den Buchtext, in dem sämtliche Funde und Befunde abgehandelt sind.
- Bei archäologischen Befunden ohne entsprechende Urkundennennung fehlt die Jahreszahl in der zweiten Spalte.
Erst der Gang durch die endlose Ortsnamenreihung macht plastisch, was hier alles fehlt: Nicht nur sämtliche Agilolfingerpfalzen und alle Karolingerpfalzen, auch die oft genannten Bischofspfalzen, nicht nur ein Münz-wesen unter den Agilolfingerherzögen, als hätten sie von ihren Verwandten nie von den Vorteilen des Münzschlagens gehört. Nein, auch das gesamte normale Leben jener Zeit, die zwar ohnehin keine Städte gekannt haben soll, aber doch Tausende von Ansiedlungen.
An dieser Stelle ist der Einwand zu erwarten, dass es aber immerhin 57 Siedlungen, 15 Flechtwerkfunde, 26 Holzkirchen und 70 Steinkirchen gegeben hätte. Die Existenz der wenigen Holz- und Steinbauten wird von uns in keiner Weise bestritten, sehr wohl aber ihre Datierung. Wir gehen ihr in jedem einzelnen Fall nach und kön-nen so zeigen, wie schnell eine Agilolfingerkirche ’nachgewiesen‘ ist. Man lege in eine spätgotischen Kirche eine Heizung und fördere ein altes Fundament zutage. Das ist nicht leicht datierbar, da sämtliche Zierformen fehlen. Aber da hilft der Blick in die Urkunden weiter. Ist da nicht bereits 774 von einer Kirche die Rede? Also haben wir ein agilolfingisches Fundament vor uns…
Schließlich haben die Archäologen genauso wie die Historiker ständig das Bedürfnis, das so fundarme Frühmittelalter mit Funden anzureichern. Und da bleibt es nicht aus, dass die Beigaben der Reihengräberfelder von ca. 600 bis nach 700 gedehnt werden, dass spätantike Funde jünger und frühromanische Funde älter gemacht werden. Nur so kann die Lücke einigermaßen kaschiert werden. Dieser Vorgang lief bislang in bester Absicht ab, seit einiger Zeit natürlich in der erkennbaren Absicht, die monierte Lücke immer besser zu schließen. Da kann es dann schon passieren, dass – wie in Sulzbach-Rosenberg – eine klar als ottonisch erkannte Burgkapelle in einen Karolingerbau verwandelt wird (innerhalb derselben Grabungskampagne) oder dass die Ramsacher Glocke binnen 24 Stunden zwei verschiedene Datierungen und verschiedene Herkunftsgebiete erhält, um sie nur endlich von der Realzeit in die Imaginärzeit zu verpflanzen (im Buch eingehend erläutert).
Wenn wir die Zeit von 500 bis 1000 nehmen, dann lässt sich die insgesamt ärmliche Fundsituation erheblich aufbessern, wenn drei dieser fünf Jahrhunderte entfallen und nicht mehr durch Funde belegt werden müssen. So lange dies nicht geschieht, bleibt das frühe Mittelalter die jammervollste Periode innerhalb der europäischen Geschichte, die uns scheinbar mehr Funde vorenthält als die Jungsteinzeit, als die keltische oder die Römerzeit – die nun alle deutlich älter sind als das Frühmittelalter und über weite Strecken nicht als Aufbruchszeit gelten können. Wir haben zum Vergleich die denkmalgeschützten Hügelgräber der Vorzeit, Keltenschanzen und römisches Fundgut mit aufgelistet.
Urkunden sind leicht fälschbar, Urkunden sind beliebig oft gefälscht worden – davon könnten die Diplomatiker ein Lied singen. Urkunden können deshalb nur dann für eine Zeit bürgen, wenn die von der Archäologie überprüfbaren Elemente dieser Texte auch zu einem Gutteil von den Archäologen bestätigt werden können. Wenn dies nicht geschieht, verwaltet die Wissenschaft Geisterreiche, die zwar auf Papier oder Pergament wunderbar wirken, doch in der Wirklichkeit niemals existiert haben. Dass sich der Glaube ans geschriebene Wort so lange halten konnte, ist wirklich ein Wunder.
Wie gesagt: Bayern steht nur als gutes Beispiel für ganz Mitteleuropa, ja für ganz Europa und die Alte Welt von Island bis Indonesien. Was sich vielerorts stichprobenartig abzeichnet, ist hier einmal durchexerziert worden: Das frühe Mittelalter (von 614 bis 911) ist nicht extrem fundarm, sondern fundleer. Daraus ergeben sich umstürzende Folgerungen: Im Buch ist nicht nur die fränkisch-bajuwarische Geschichte behandelt, sondern vor allem auch die Christianisierung von Mitteleuropa.
An dem grundstürzenden Befund dieses Buches kann auch eine astronomische Retrokalkulation oder eine damnatio memoriae nichts ändern. Es ändert sich nur die Einschätzung von Wissenschaftlern, die eine aufgeworfene Frage nicht beantworten, ein Problem nicht angehen wollen, weil die Antwort alles über den Haufen werfen würde. Die Bezeichnung „Wissenschaftler“ kann nicht mehr für solche ‚Bewahrer‘ benutzt werden, die lieber verleumden oder totschweigen, als die eigenen Ergebnisse kritisch zu würdigen und die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Es sei an die jüngste und vielleicht letzte derartige Äußerungen erinnert, gemacht von Prof. Dr. Rudolf Schieffer:
„Wenn man gegen Illig sei, fühle er sich als Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion, und wenn man schweige, sage er, dass der Wissenschaft halt nichts Vernünftiges einfalle. Er, Schieffer, werde dennoch den Mund halten.“ (Süddeutsche Zeitung, 7.2.2003).