„Und ein edler Volk hat einst gelebt.
Könnte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schoß der Erde gräbt.“
Friedrich Schiller [419].
Dieses Buch untermauert die Ergebnisse, die Das erfundene Mittelalter und Wer hat an der Uhr gedreht? [Illig 1996; 1999], begleitet von vielen Aufsätzen zahlreicher Autoren in der Zeitschrift Zeitensprünge, vorgestellt hat:
Rund drei Jahrhunderte des frühen Mittelalters sind eine Erfindung des späteren Mittelalters; die Zeit zwischen August 614 und September 911 ist niemals abgelaufen; die in dieser Zeit auftretenden Protagonisten sind Erfindung oder Projektion von Personen aus realen Zeiten in die erfundene Zeit; geistiges wie materielles Substrat dieser Jahrhunderte stammt in Wahrheit aus anderen Zeiten und wurde fälschlicherweise oder zum Teil auch fälschender oder zumindest verfälschender Weise der fiktiven Zeit zugeordnet. Deshalb werden diese rund drei Jahrhunderte als „fiktive Zeit“ charakterisiert und von der Zeitachse gestrichen. Diese so genannte Phantomzeit findet sich bislang in fast allen Ländern der Alten Welt, also zwischen Island und China. Sie ist im christlichen Abendland kreiert worden und hat sich unbeabsichtigt, aber zwangsläufig auf die benachbarten Kulturen ausgebreitet.
Diese Thesen sind seit 1991 entwickelt und in Buchform sukzessiv erweitert worden [Illig 1992, 1994, 1996, 1998b, 1999]. Seit 1995 diskutieren Spezialisten und die einschlägig interessierte Öffentlichkeit gleichermaßen all jene Thesen, die einen Teil der uns vertrauten Geschichte grundsätzlich in Frage stellen. So ungeheuerlich sie im ersten und zweiten Moment auch klingen, konnten sich diese Thesen vom erfundenen Mittelalter in härtester Diskussion und auch bei durchaus emotional angeheizter Stimmung behaupten. Zuständig unter den Historikern sind die Mediävisten. Sie haben ihre Bezeichnung von medium aevum, von jener mittleren Epoche, die als Trennung zwischen Antike und Neuzeit gesehen worden ist und heute im Allgemeinen von 476, dem Untergang Roms, bis zur Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 gerechnet wird. Von den ihnen anvertrauten rund 1.000 Jahren stehen fast 300 Jahre, fast 30 Prozent zum Streichen an. Demnach wird eine mitten in vertrauter Schriftkultur liegende Zeit als fiktiv erkannt, die bislang als absolut gesichert gegolten hat.
Die Beweisführung setzte an ganz unterschiedlichen Punkten an: bei unserem Kalender, der seine ursprüngliche Fassung unter Julius Caesar erhalten hat, bei der Aachener Pfalzkapelle, die aus vielen Gründen nicht aus der Zeit um 800 stammen und folglich auch nicht das zentrale Bauwerk der Karolingerzeit darstellen kann, bei der archäologischen Fundleere, die in der ganzen Alten Welt gerade in dieser Zeit auffällt, bei der horrenden Zahl von Fälschungen im frühen und hohen Mittelalter, die zu einem beachtlichen Teil zuvor nicht motiviert werden konnten, bei zahllosen Widersprüchen, die im bisherigen Geschichtsbild einfach nicht zu lösen sind, und bei interessanten Details, die in der Waffentechnik wie bei theologischen Fragen, bei Landwirtschaft wie in der medizinischen Wissenschaft, bei künstlerischen Entwicklungsphasen wie bei der Reichsverwaltung endlich verständlich werden.
Es gab und gibt eine Fülle von Gegenstimmen; über 100 Spezialisten haben sich öffentlich geäußert. Sie hatten die Möglichkeit, alle vorgebrachten Argumente zu prüfen. Am wenigstens ist das bei den architektonischen Aspekten geschehen, am meisten bei den astronomischen. Nun hat aber der ursprüngliche Untertitel des „erfundenen Mittelalters“ den Problemkreis knapp und klar umrissen: „Bauten, Funde und Schriften im Widerstreit“, womit die Beweislast eindeutig bei Architekturhistorie und Archäologie liegt [Illig 1994a]. Wie ist dem begegnet worden?
Am erstaunlichsten verhielt sich die unmittelbar zuständige Zeitschrift ‚Archäologie in Deutschland‘. Sie eröffnete eine Diskussion mit dem Beitrag des Urkundenkenners Matthias Becher [Heft 3/19991, der jedoch nichts zu den Problemen der Archäologie beitragen konnte. Die Diskussion wurde im Folgeheft von Béatrie Keller [4/1999] auf dem Gebiet der Kalenderrechnung weitergeführt. Nachdem ihre Argumentation fehlerhaft war und zurückgenommen werden musste [Keller, 1/2000], brachten zwei weitere Autoren antike Sonnenfinsternisse als Beweismittel vor [Fries-Knoblach/Fricke, 2/2000]. Mit diesem wiederum archäologiefremden Beitrag wurde die Diskussion beschlossen, ohne die gravierenden Fehler des letzten Artikels zu korrigieren. Somit hatte eine vom Verband der deutschen Landesarchäologen herausgegebene Zeitschrift keinen einzigen archäologischen Diskussionsbeitrag gebracht! Erst später publizierte sie nun außerhalb dieser Diskussion einen Beitrag zu Großhöbing, der sich allerdings auf publizierte Bücher stützte und damit nicht dem Charakter einer aktuellen Zeitschrift entsprach [Nadler 2000b].
Auch andernorts waren gerade die Architekturhistoriker wie die Archäologen sehr zurückhaltend in ihren Äußerungen. Das bezieht sich sowohl auf die Zahl ihrer Beiträge zu dieser Debatte als auch auf deren Umfang. Immerhin wurde ein zentrales Detail klargestellt: Die Kuppel der Aachener Pfalzkapelle ist nicht karolingisch, sondern stammt von Gallo-Römern oder Ottonen! [V.d.Meulen 495] Damit ist eine der wichtigsten Bastionen herkömmlicher Chronologie ohne weitere Kommentierung durch Dritte geräumt worden.
Nun sind die Thesen der Phantomzeit -die Bezeichnung stammt von Hans-Ulrich Niemitz [1993]- auf dem achten Symposium der deutschen Mediävisten, 1999 in Leipzig, von Anialie Fößel angesprochen worden. Die Privatdozentin der Universität Bayreuth referierte und kritisierte sie. Dazu gibt es das Gedächtnisprotokoll von Niemitz [1999], eine populäre Fassung [Fößel 1999a] und die nach Illigs Erwiderung [1999b] geschriebene Endfassung [Fößel 1999b], die z.B. aktuelle Grabungsergebnisse in Paderborn aus dem mittlerweile erschienenen Ausstellungskatalog ergänzte, aber die entsprechenden Ergebnisse in Aachen überging.
Wie es sich für eine urkundenorientierte Mediävistin zu geziemen scheint, hält sie von den Bodenfunden vergleichsweise wenig, auch wenn sie ein Lippenbekenntnis ihrer „großen Bedeutung“ vorausgeschickt hat: Sie könnten „nicht selten Lücken in der schriftlichen Überlieferung […] schließen“ [Fößel 1999b, 71]. So wird mit knappen Worten einer Hilfswissenschaft der ‚gebiihrende‘ Platz zugewiesen, von dem aus sie allenfalls Details beitragen kann.
„Dennoch geht es nicht an, die zufällig erhaltenen und sehr häufig auch zufällig ergrabenen Überreste zum Maßstab für die Existenz einer ganzen Epoche zu machen. Die Leistungen und Aktivitäten Karls des Großen und seiner Zeitgenossen lassen sich nicht auf die eine Zeitspanne von 1200 Jahren überdauernden Relikte reduzieren“ [ebd., 71].
Man könnte lange darüber streiten, ob es so selten gezielte Grabungen gibt, noch länger darüber, warum die wirklich nur zufällig erhaltenen Urkunden den Maßstab abgeben können. Wir stellen das zurück. Denn Fößel hält den archäologischen Befund gleichwohl für aussagekräftig genug, um die These vom erfundenen Mittelalter zu Fall zu bringen:
,,Siedlungsarchäologische Untersuchungen, die ILLIG ja zum alleinigen Gradmesser der Karolingerzeit erhoben hat, werden bezeichnenderweise ignoriert: Sie ‚können […] nicht vertieft werden‘, so die lapidare Bemerkung. Und das können sie aus seiner Perspektive nun tatsächlich nicht, denn die Vielzahl von Funden aus ganz unterschiedlichen Bereichen menschlichen Lebens und Arbeitens würden sein Hypothesenkonstrukt ganz schnell zum Einsturz bringen!“ [Fößel 1999b, 69]
Fößel hat Illigs Text falsch und irreführend zitiert, hieß es doch am Ende einer Passage über die minimalen Einwohnerzahlen frühmittelalterlicher Städte:
„Stadtarchäologische Befunde können aber in diesem Band nicht vertieft werden“ [Illig 1998b, 154].
Es ging also speziell um Stadt und nicht allgemein um Siedlungsarchäologie, und die Einschränkung galt nur für den ersten Band zu dieser These. Nunmehr ist die Zeit gekommen, diese Rückstellung nachzutragen. Deshalb wollen wir Fößel beim falschen Wort nehmen: Kann die Vielzahl von Funden tatsächlich das Hypothesenkonstrukt ganz schnell zum Einsturz bringen? Zeugen wirklich tausend redende Steine zugunsten der Phantomzeit, wie das Friedrich Schiller vor genau 200 Jahren und damit schon vor den Anfängen mitteleuropäischer Archäologie in genialer Voraussicht erwartet hat?
Fößel geriet sogleich auf heikles Terrain, brachte sie doch ausgerechnet den so genannten Karlsgraben bei Treuchtlingen gegen die Phantomzeit vor. Dabei glänzt gerade dort die „Karolingerzeit“ durch die Abwesenheit von Funden, worauf von uns schon hingewiesen worden ist und wie wir im Kapitel über Erdwerke noch einmal demonstrieren. Derartige Fehlanzeigen gibt es nicht nur bei diesem ominösen Doppelwall, sondern an fast allen Stellen, an denen gegraben worden ist. Schon in dem von Fößel kritisierten Buch [Illig 1998b) gab es genügend siedlungsarchäologische ‚Fehlbelege‘, die hier nicht nochmals aufgezählt werden müssen [vgl.Illig 2000a, 284 f.; Niemitz 1992].
Statt dessen präsentieren wir die ebenso dürftige, von Matthias Untermann knapp und prägnant dargestellte Situation rings um die Aachener Pfalzkapelle, publiziert im Katalog der großen Karlsausstellung 1999 in Paderborn. Ihn hat Fößel für die Endfassung ihres Vortrags benutzt.
„Erstaunlicherweise hat bislang keine Grabung oder Baustellenbeobachtung innerhalb und außerhalb der Altstadt von Aachen eindeutige Siedlungsreste karolingischer Zeit erfaßt, obwohl die Überlieferung auf die Anwesenheit von Kaufleuten und zahlreichen Einwohnern sowie auf die Existenz durchaus anspruchsvoller Adelshöfe schließen läßt, von deren Gebäuden und Sachkultur einiges im Boden zu finden sein müßte. Alle bisherigen Aussagen zu Straßensystem, Siedlungsstruktur und Grenzen dieser Siedlung beruhen allein auf Schriftquellen und theoretischen Überlegungen“ [Untermann 1999, 162].
Das karolingische Aachen würde also bestätigt durch eine Pfalzkirche, die nach allen architekturhistorischen Kriterien nicht aus dieser in Frage stehenden Zeit stammen kann, durch eine baulich größtenteils veränderte Aula (das heutige Rathaus), ansonsten durch nicht nachweisbare Bauten oder Gegenstände und durch Einwohner, die keine Spuren hinterlassen haben! Alarmierender kann die Fundsituation in der wichtigsten Pfalz des Frankenreichs gar nicht ausfallen. Fößel sah hierin überhaupt kein Signal, schickte sie doch ihrer Verteidigung der meisterlich gebauten Aachener Pfalzkapelle voraus:
„Vor allem nimmt er [Illig] nicht zur Kenntnis was Grabungen immer wieder bestätigen , daß die im Frühmittelalter nur rudimentär vorhandene Steinbauweise sowie die Bautätigkeit späterer Jahrhunderte nicht allzu viel bauliche Überreste übrigließen“ [FößeI 1999a, 20].
Wo gäbe es sonst eine rudimentär vorhandene Baukunst, die sich bei Bedarf zu einer Meisterschaft sondersgleichen aufschwingt, während ringsum alles so rudimentär bleibt, dass es rasch und rückstandslos vergehen kann? Da aber im Fall von Aachen der Vorwurf kommen könnte, dass es sich hier um eine ‚Rosine‘, nicht um den ‚karolingischen Standardfall‘ handele, haben wir uns zusammengetan, um eine flächendeckende Studie zu erstellen, die für den mitteleuropäischen Raum repräsentativ ist.
Sie beschäftigt sich mit dem heutigen Freistaat Bayern. Gerhard Anwander hat sie bereits 1998 eingeleitet, als er zunächst Oberbayern als „virtuellen Urkundenraum“ im frühen Mittelalter demonstriert hat. Von da weiter ausgreifend, suchte er für ganz Bayern alle karolingischen Ortsnennungen und die materiellen Belege für diese Orte. An dieser steten, durch keine übergreifende Literatur flankierten Suche hat sich dann auch Heribert Illig beteiligt, der die öffentliche Diskussion entfacht und zum größten Teil bestritten hat. In der Folge übernahm er den maßgeblichen Part für Teil 1, während Anwander ebenso maßgeblich Teil 2 mitsamt der Haupttabelle erarbeitete und zum Druck vorbereitete.
Das Buch wäre fast noch in einem vergessenen Jubeljahr erschienen. Anno 2001 stand die 1.450-Jahr-Feier der erstmaligen schriftlichen Nennung der Baiern als Volk an, denn 551 hat Jordanes in seiner Gotengeschichte als erster die Baiern erwähnt. Wir konnten entsprechende Festivitäten nicht stören, weil keine stattfanden und selbst der Anlass fast unbemerkt geblieben ist [Ausnahme: Unterstöger 2001]. Das geschah vielleicht aus dem einfachen Grund, dass eine gescheiterte Selbstüberhöhung kaschiert werden musste. Pikanterweise hatte 1992 der bayerische Ministerpräsident Max Streibl dem Haus der bayerischen Geschichte den Nachweis abverlangt, dass vor 1.500 Jahre die Stammesbildung „zu einer eigenen, bayerischen Identität fand“ und „zur Staatlichkeit drängte“ [Reiser 1992]. Nach dieser Rechnung wäre 1993 der Bezug der neuen Staatskanzlei mit einer prachtvollen 1.500-Jahre-Bavaria-Feier überhöht worden. Doch die Festivität wurde mangels Altersnachweis abgesagt, und Streibl konnte die Staatskanzlei nur einweihen, aber nicht mehr beziehen. Immerhin war es ihm noch gelungen, das Haus der Bayerischen Geschichte aus dem Bau der Staatskanzlei zu weisen, ‚verbannte‘ er doch diese winzige Behörde nach Augsburg, um den Behörden-Wasserkopf München zu entlasten. Bis dahin hatte die Staatskanzlei ihre Subbehörde als Feigenblatt für die erstaunliche Größe des Baukomplexes benutzt.